Schulraum

Der Raum als „dritter Pädagoge“

Das Churermodell setzt auf individuelle Förderung – und die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder. Eine Grundschule in Düsseldorf probiert es aus.

Auf dem himmelblauen Ohrensofa lümmeln Aleyna und Nadira* und lesen sich gegenseitig aus „Pettersson und Findus“ vor. Ein paar Jungs spielen auf einem flauschigen Teppich, andere sitzen an Vierertischen und malen. Die Sonne scheint durch die großen Fenster, die Tigerklasse genießt ihre Mittagspause. Zimmerpflanzen und bunte Bilder an den Wänden verströmen Wohnzimmer­atmosphäre. Und doch ist der gemütliche Raum der 2 c im Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße in Düsseldorf-Oberbilk ein ganz normales Klassenzimmer.

Nur ein paar Monate zuvor versprühten die Räume noch den verstaubten Charme der 70er-Jahre. Kleine Tische und Stühle mit Blick zur Tafel, vorne das Pult der Lehrkraft. Dass das nicht so bleiben konnte, hatte zunächst einen praktischen Grund: Die meisten Kinder bleiben den ganzen Tag in der Schule, eigene Räume für die Nachmittags­betreuung gibt es nur wenige. „Da wir die Klassenzimmer vormittags und nachmittags nutzen müssen, wollten wir eine warme und wertschätzende Atmosphäre schaffen, in der sich die Kinder den ganzen Tag gerne aufhalten“, sagt Schulleiter Kornelius Knettel. Wo die Kinder morgens lesen, schreiben und rechnen, dürfen sie nachmittags nun entspannen.

Klassenräume als Lernlandschaften

Die Umgestaltung der Räume ist Teil des Schulentwicklungsprozesses, der am Familien­grundschulzentrum Sonnenstraße schon Jahre zuvor in Gang gebracht wurde. Der Grund für den Wunsch nach Veränderung: „Traditioneller Unterricht funktioniert in unserem Umfeld nicht mehr“, so Knettel, dessen Schule den Sozialindex 9 hat. Wo das eine Kind erst lernen muss, einen Stift zu halten, während ein anderes schon Buchstaben lesen kann, stößt Unterricht nach Lehrbuch an seine Grenzen. „Wir wollten davon wegkommen, dass die Lehrkraft an der Tafel den Erklärbären spielt“, sagt Knettel.

Anfang 2024 begann die Schule, alle Klassenräume in Lernlandschaften mit unterschiedlichen Arbeitsplätzen umzugestalten. Die Idee vom „Raum als dritten Pädagogen“, der neben den Mitschülerinnen und Mitschülern sowie der Lehrkraft die Kinder erzieht und unterrichtet, hat Knettel und sein Team bei ihrer Suche nach neuen Lösungen inspiriert. Diesem Gedanken folgt auch das sogenannte „Churermodell“, das sich das Familiengrundschul­zentrum Sonnenstraße deshalb zum Vorbild genommen hat.

Das Konzept, das aus der schweizerischen Stadt Chur stammt, setzt auf eine ganzheitliche Bildung, die neben dem eigentlichen Lernen auch die soziale und die emotionale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler im Blick behält. Durch individuelle Förderung sollen die Stärken und Interessen der Kinder besser berück­sichtigt werden. Dafür, so die Theorie, brauchen sie ein unterstützendes Umfeld, in dem sie sich wohl und akzeptiert fühlen. „Wenn der Raum wertschätzend gestaltet ist, signalisiert das den Kindern, dass sie selbst auch wertgeschätzt werden“, erklärt die Schulbauberaterin und Schul­entwicklungsbegleiterin für Schulen im Brennpunkt, Petra Regina Moog.

Gleich wohlfühlen beim Reinkommen: Bunte Bilder mit Buchstaben an der Tür begrüßen die Schülerinnen und Schüler der Tigerklasse 2c.

Wer hat das schon – ein großes gemütliches Sofa im Klassenraum? Die Umgestaltung der Räume finanziert die Schule durch Spenden.

Selbstbestimmtes Sitzen

Diesen Wohlfühlort finden die Schülerinnen und Schüler in Düsseldorf-Oberbilk jetzt in ihrem Klassenzimmer. Zentraler Treffpunkt ist ein Sitzkreis vor der digitalen Tafel, an dem sich kleine Holzbänke um einen weichen Teppich gruppieren. Im Raum verteilen sich Gruppen- und Partnerarbeitsplätze sowie ein Besprechungstisch, abgetrennt durch Holzregale. Manche ermöglichen den freien Blick auf die Tafel, andere sind so ausgerichtet, dass die Kinder zurückgezogen arbeiten können. Wer wo und mit wem sitzt, entscheiden die Schülerinnen und Schüler selbst, nur im Einzelfall greift die Lehrkraft ein. Hauptsache, die Kinder lernen erfolgreich.

Auch das einstmals düstere Foyer, das nur selten genutzt wurde, hat das Team umgestaltet und durch den Einbau eines Dachfensters in ein lichtdurchflutetes Selbst­lernzentrum verwandelt. Hier treffen sich Fördergruppen oder auch einzelne Kinder, die selbstständig mit eigens angeschafften Lernmaterialien arbeiten. Finanziert wurde die Neugestaltung durch Spenden, die etwa für den Kauf von mobilen Lehrerpulten, Teppichen und Sofas eingesetzt wurden. Für neun von zwölf Klassenzimmern reichte das Geld, für die restlichen drei muss die Schule noch sparen.

Schulleiter Kornelius Knettel im Gespräch mit Schülern: Der Sitzkreis vor der digitalen Tafel ist der zentrale Treffpunkt der Tigerklasse.
Das einstmals düstere Foyer wurde in ein Selbstlern­zentrum verwandelt. Auch die Lehrkräfte treffen sich hier, um Themen miteinander zu besprechen.

„Man muss die Räume verändern, damit sich auch das Denken der Lehrkräfte und der Unterricht ändern.“

Das Familiengrund&shyschulzentrum Sonnenstraße in Düsseldorf-Oberbilk hat sich auf den Weg in eine neue Zeit des Lernens gemacht.
Das Churermodell nimmt auch die soziale und die emotionale Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in den Blick. Wer sich gut fühlt, lernt auch besser.

Umstellung auf jahrgangsübergreifendes Lernen

Mit der räumlichen Neugestaltung stellt die Schule auch ihr pädagogisches Konzept radikal um. Ab Sommer 2025 werden die Schülerinnen und Schüler in jahrgangsgemischten Klassen lernen. Der Anstoß zu diesem umfassenden Neubeginn, der von den Räumen über die Materialien bis hin zur Pädagogik reicht, kam aus dem Kollegium. Die Lehrerinnen und Lehrer hoffen, dass sie in jahrgangs­gemischten Klassen in diversen Lernlandschaften besser auf das einzelne Kind eingehen können. Lerngruppen zu bestimmten Themen sollen die Schülerinnen und Schüler auf ihrem Wissensstand abholen. Wer sich in der 2. Klasse beispielsweise im Zahlenraum bis 20 noch nicht sattelfest fühlt, kann zusammen mit den Schul­anfängerinnen und -anfängern lernen.

Nach den Regeln des Churermodells startet jeder Schultag mit einem kurzen Input. Anschließend setzen sich die Schülerinnen und Schüler an selbst gewählten Arbeitsplätzen mit ihren individuellen Lern­aufgaben auf jeweils eigenem Anspruchsniveau auseinander – und werden dabei von der Lehrkraft begleitet. Für Schul­leiter Knettel markiert die Neugestaltung der Räume den Aufbruch in eine neue Zeit des Lernens. „Man muss die Räume verändern, damit sich auch das Denken der Lehrkräfte und der Unterricht ändern“, ist er überzeugt.

Dass Architektur und Pädagogik zwei Seiten einer Medaille sind, betont auch Schulbauberaterin Petra Moog. „Beides hängt zusammen und muss gemeinsam entwickelt werden“, sagt sie. Besonders in Schulen im Brennpunkt solle man auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler mit diversen Lern­umgebungen reagieren. Das Churermodell mit seiner kindzentrierten Lern­­umgebung und den wechselnden Methoden biete die Chance, die Kinder und ihre Lernfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gelingen sei allerdings die aktive Beteiligung des Teams, der Eltern und der Kinder. Am Familiengrundschulzentrum Sonnenstraße sind die Weichen dafür gestellt.

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