Kinder von Arbeiterinnen und Arbeitern studieren seltener. Jene aus Familien mit akademischem Hintergrund erhalten häufiger eine Gymnasialempfehlung. Und Kinder mit Zuwanderungsgeschichte erreichen seltener die Mindestanforderungen in Fächern wie Mathematik und Deutsch: Immer wieder zeigen einzelne Studien, dass der Bildungserfolg in Deutschland eng mit der sozialen Herkunft verknüpft ist. Was jedoch lange fehlte, war eine Zusammenstellung der Grundlagen und Befunde von nationalen und internationalen Schulleistungsstudien – insbesondere mit dem Fokus auf herkunftsbedingte Unterschiede.
Im Jahr 2013 beauftragte die Wübben Stiftung Bildung daher Forschende der Universität Duisburg-Essen mit der Erstellung einer solchen Übersicht. 2014 erschien „Woher und Wohin“. Jetzt, zehn Jahre später, gibt es eine aktualisierte und erweiterte Fassung von einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Osnabrück, der Universität Duisburg-Essen, der Ruhr-Universität Bochum und der TU Dortmund: „Woher und Wohin 2024“.
Die Expertise umfasst 86 Seiten. Sie zu lesen ist für alle Bildungsakteurinnen und -akteure, auch aus der Schulpraxis, lohnenswert. Nachfolgend gibt es für Interessierte aber schon mal die wichtigsten Ergebnisse und Handlungsempfehlungen im Überblick:
Die wichtigsten Ergebnisse:
- Effekt der sozialen Herkunft hat sich teilweise noch verstärkt: Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Bildungsbenachteiligung hat sich in den letzten Jahren nicht verringert, sondern teilweise sogar verstärkt.
- Kompetenzbereich Lesen: In kaum einem vergleichbaren Land ist der Leistungsvorsprung von Schülerinnen und Schülern aus privilegierteren Familien so groß wie in Deutschland. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler aus sozial benachteiligten Familien liegen am Ende der Pflichtschulzeit rund zwei Lernjahre zurück.
- Kompetenzbereich Mathematik: Die herkunftsbedingte Ungleichheit ist hier deutlich ausgeprägt. Darüber hinaus ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die am Ende ihrer Pflichtschulzeit die Mindeststandards nicht erreichen, merklich gestiegen (in zehn Jahren von rund 18 Prozent auf 30 Prozent).
- Kompetenzbereich Naturwissenschaften: Auch in diesem Bereich zeigt sich eine deutliche Ungleichheit nach sozialer Herkunft. Die fächerspezifischen Kompetenzunterschiede zwischen sozial benachteiligten und privilegierteren Schülerinnen und Schülern machen am Ende der Pflichtschulzeit zwei bis dreieinhalb Lernjahre aus.
- Computer- und informationsbezogene Kompetenzen: Die herkunftsbedingten Unterschiede sind auch in diesem Kompetenzbereich groß. Fast der Hälfte der sozial benachteiligten Jugendlichen fehlen Kompetenzen, die für die digitale Teilhabe an der Gesellschaft notwendig sind.
- Politisches Wissen: Hier zeigen sich in Deutschland größere Unterschiede nach sozialer Herkunft als in den meisten anderen Ländern. Die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit hohem und denen mit niedrigem schulischem Bildungsstand der Eltern haben sich sogar vergrößert.
- Schulformbezogene Benachteiligung: Kinder aus sozial benachteiligten Familien besuchen – auch unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten und Leistungen – seltener das Gymnasium. Gleichzeitig geht der Besuch von nicht-gymnasialen Schulformen bis zum Ende der Pflichtschulzeit mit Lernrückständen von drei bis vier Schuljahren einher.
- Kumulative Benachteiligung: Vom Kindergarten bis zum Hochschulzugang – in allen Phasen und an allen Übergängen zeigen sich herkunftsbedingte Benachteiligungen, die die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern deutlich einschränken.
Die wichtigsten Handlungsempfehlungen im Überblick:
- Bildungsakteurinnen und -akteure müssen langfristig und zielgerichtet zusammenarbeiten: Maßnahmen sollten evidenzbasiert und datengestützt eingeführt sowie regelmäßig überwacht und evaluiert werden.
- Kompetenzförderung breiter anlegen: Neben kognitiven Fähigkeiten und Fachwissen sollten verstärkt auch motivationale und interessenbezogene Orientierungen sowie fächerübergreifende Kompetenzen wie Selbstregulation gefördert werden, die ebenfalls wichtig für das schulische Lernen sind.
- Schulversagen frühzeitig verhindern: Die Förderung der Kinder sollte bereits im Vorschulbereich ansetzen. Darüber hinaus ist es ratsam, die Sprachförderung von Schülergruppen mit (überwiegend) nicht-deutscher Familiensprache und Second-Chance-Programme, die den nachträglichen Erwerb von Schulabschlüssen ermöglichen, auszubauen.
- Belastete Schulen gezielt unterstützen: Schulen im Brennpunkt sollten zusätzliche Ressourcen erhalten. Zudem ist es empfehlenswert, zielgerichtete Förderprogramme ins Leben zu rufen.
- Erreichung von Mindeststandards sicherstellen: Die Basiskompetenzen gilt es, durch gezielte Diagnostik und adaptive und interaktive Lernumgebungen zu stärken. Dazu ist auch die Fortbildung der Lehrkräfte notwendig.
- Digitale Kompetenzen fördern: Computer- und informationsbezogene Kompetenzen sollten systematisch aufgebaut werden, um gesellschaftliche Teilhabe und beruflichen Erfolg zu ermöglichen. Dazu gehört auch die gezielte Fortbildung des pädagogischen Personals.
- Politische Kompetenzen stärken: Insbesondere an nicht-gymnasialen Schulformen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Kinder sollten formale und nonformale Lernangebote ausgebaut werden, um demokratische Teilhabe zu ermöglichen.
- Multiprofessionelle Ressourcen nutzen: Multiprofessionelle Teams sowie außerschulische Akteurinnen und Akteure sollen stärker in die schulischen Bildungsprozesse eingebunden werden.
- Familien einbeziehen und stärken: Zur sozialraumorientierten Schulentwicklung gehören insbesondere niedrigschwellige (Beratungs-)Angebote, die Eltern in Erziehungs- und Bildungsfragen miteinbeziehen und unterstützen.
- Schulsystem inklusiver gestalten: Ein inklusiveres Schulwesen, dass zunehmend Schulformen mit mehreren Bildungsgängen etabliert, kann dazu beitragen, das System insgesamt leistungsfähiger und gerechter zu machen.
Dr. Hanna Pfänder arbeitet im impaktlab, der wissenschaftlichen Einheit der Wübben Stiftung Bildung.
Über die Expertise
- Vertr.-Prof. Dr. Matthias Forell, Universität Osnabrück
- Prof. Dr. Isabell van Ackeren-Mindl, Universität Duisburg-Essen
- Prof. Dr. Gabriele Bellenberg, Ruhr-Universität Bochum
- Prof. Dr. Esther Dominique Klein, TU Dortmund
- unter Mitarbeit von Philipp Matthes, Ruhr-Universität Bochum