Bildungsbenachteiligung

Der Effekt der sozialen Herkunft

„Woher und Wohin 2024“: Dr. Hanna Pfänder aus dem impaktlab der Wübben Stiftung Bildung über die wichtigsten Ergebnisse und Handlungsempfehlungen der Expertise.

Kinder von Arbeiterinnen und Arbeitern studieren seltener. Jene aus Familien mit akademischem Hintergrund erhalten häufiger eine Gymnasialempfehlung. Und Kinder mit Zuwanderungsgeschichte erreichen seltener die Mindest­anforderungen in Fächern wie Mathematik und Deutsch: Immer wieder zeigen einzelne Studien, dass der Bildungserfolg in Deutschland eng mit der sozialen Herkunft verknüpft ist. Was jedoch lange fehlte, war eine Zusammen­stellung der Grundlagen und Befunde von nationalen und internationalen Schulleistungs­studien – insbesondere mit dem Fokus auf herkunftsbedingte Unterschiede.

Im Jahr 2013 beauftragte die Wübben Stiftung Bildung daher Forschende der Universität Duisburg-Essen mit der Erstellung einer solchen Übersicht. 2014 erschien „Woher und Wohin“. Jetzt, zehn Jahre später, gibt es eine aktualisierte und erweiterte Fassung von einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Osnabrück, der Universität Duisburg-Essen, der Ruhr-Universität Bochum und der TU Dortmund: „Woher und Wohin 2024“.

Die Expertise umfasst 86 Seiten. Sie zu lesen ist für alle Bildungs­akteurinnen und -akteure, auch aus der Schulpraxis, lohnenswert. Nachfolgend gibt es für Interessierte aber schon mal die wichtigsten Ergebnisse und Handlungs­empfehlungen im Überblick:

Schule – ein Ort, an dem Kinder mit unterschiedlicher sozialer Herkunft gemeinsam lernen. Ihre Kompetenzen unterscheiden sich allerdings in Teilen deutlich. © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
Kognitive Fähigkeiten und Fachkompetenzen sind wichtig. Die Expertise betont aber auch die Notwendigkeit der Förderung fächerübergreifender Kompetenzen. © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Die wichtigsten Ergebnisse:

  1. Effekt der sozialen Herkunft hat sich teilweise noch verstärkt: Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und schulischer Bildungs­benachteiligung hat sich in den letzten Jahren nicht verringert, sondern teilweise sogar verstärkt.
  2. Kompetenzbereich Lesen: In kaum einem vergleichbaren Land ist der Leistungs­vorsprung von Schüler­innen und Schülern aus privileg­ierteren Familien so groß wie in Deutschland. Ihre Mit­schülerinnen und Mitschüler aus sozial benach­teiligten Familien liegen am Ende der Pflichtschulzeit rund zwei Lernjahre zurück.
  3. Kompetenzbereich Mathematik: Die herkunfts­bedingte Ungleich­heit ist hier deutlich ausge­prägt. Darüber hinaus ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die am Ende ihrer Pflichtschulzeit die Mindeststandards nicht erreichen, merklich gestiegen (in zehn Jahren von rund 18 Prozent auf 30 Prozent).
  4. Kompetenzbereich Naturwissenschaften: Auch in diesem Bereich zeigt sich eine deutliche Ungleich­heit nach sozialer Herkunft. Die fächer­spezifischen Kompetenzunter­schiede zwischen sozial benach­teiligten und privileg­ierteren Schülerinnen und Schülern machen am Ende der Pflichtschulzeit zwei bis dreieinhalb Lernjahre aus.
  5. Computer- und informationsbezogene Kompetenzen: Die herkunfts­bedingten Unter­schiede sind auch in diesem Kompetenz­bereich groß. Fast der Hälfte der sozial benachteiligten Jugendlichen fehlen Kompetenzen, die für die digitale Teilhabe an der Gesellschaft notwendig sind.
  6. Politisches Wissen: Hier zeigen sich in Deutschland größere Unterschiede nach sozialer Herkunft als in den meisten anderen Ländern. Die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit hohem und denen mit niedrigem schulischem Bildungs­stand der Eltern haben sich sogar vergrößert.
  7. Schulformbezogene Benachteiligung: Kinder aus sozial benachteiligten Familien besuchen – auch unabhängig von ihren kognitiven Fähig­keiten und Leistungen – seltener das Gymnasium. Gleichzeitig geht der Besuch von nicht-gymnasialen Schul­formen bis zum Ende der Pflichtschulzeit mit Lernrück­ständen von drei bis vier Schuljahren einher.
  8. Kumulative Benachteiligung: Vom Kindergarten bis zum Hochschul­zugang – in allen Phasen und an allen Über­gängen zeigen sich herkunfts­bedingte Benachteil­igungen, die die Bildungschancen von Schülerinnen und Schülern deutlich einschränken.

Die wichtigsten Handlungsempfehlungen im Überblick:

  1. Bildungsakteurinnen und -akteure müssen langfristig und zielgerichtet zusammenarbeiten: Maßnahmen sollten evidenz­basiert und datengestützt eingeführt sowie regelmäßig überwacht und evaluiert werden.
  2. Kompetenzförderung breiter anlegen: Neben kognitiven Fähigkeiten und Fachwissen sollten verstärkt auch motivationale und interessen­bezogene Orientierungen sowie fächerüber­greifende Kompetenzen wie Selbst­regulation gefördert werden, die ebenfalls wichtig für das schulische Lernen sind.
  3. Schulversagen frühzeitig verhindern: Die Förderung der Kinder sollte bereits im Vorschul­bereich ansetzen. Darüber hinaus ist es ratsam, die Sprachförderung von Schülergruppen mit (über­wiegend) nicht-deutscher Familiensprache und Second-Chance-Programme, die den nachträglichen Erwerb von Schulabschlüssen ermög­lichen, auszubauen.
  4. Belastete Schulen gezielt unterstützen: Schulen im Brennpunkt sollten zusätzliche Ressourcen erhalten. Zudem ist es empfehlenswert, zielgerichtete Förder­programme ins Leben zu rufen.
  5. Erreichung von Mindeststandards sicherstellen: Die Basis­kompetenzen gilt es, durch gezielte Diagnostik und adaptive und interaktive Lernumgebungen zu stärken. Dazu ist auch die Fortbildung der Lehrkräfte notwendig.
  6. Digitale Kompetenzen fördern: Computer- und informations­bezogene Kompetenzen sollten systematisch aufgebaut werden, um gesell­schaftliche Teilhabe und beruflichen Erfolg zu ermöglichen. Dazu gehört auch die gezielte Fortbildung des pädagogischen Personals.
  7. Politische Kompetenzen stärken: Insbesondere an nicht-gymnasialen Schul­formen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Kinder sollten formale und nonformale Lernangebote ausgebaut werden, um demokratische Teilhabe zu ermöglichen.
  8. Multiprofessionelle Ressourcen nutzen: Multiprofessionelle Teams sowie außerschulische Akteurinnen und Akteure sollen stärker in die schulischen Bildungsprozesse eingebunden werden.
  9. Familien einbeziehen und stärken: Zur sozialraum­orientierten Schulentwicklung gehören insbesondere niedrigschwellige (Beratungs-)­Angebote, die Eltern in Erziehungs- und Bildungs­fragen miteinbeziehen und unterstützen.
  10. Schulsystem inklusiver gestalten: Ein inklusiveres Schulwesen, dass zunehmend Schulformen mit mehreren Bildungsgängen etabliert, kann dazu beitragen, das System insgesamt leistungsfähiger und gerechter zu machen.
Unterschiede auch bei der Schulform: Kinder aus sozial benachteiligten Familien besuchen seltener das Gymnasium. © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Dr. Hanna Pfänder arbeitet im impaktlab, der wissenschaftlichen Einheit der Wübben Stiftung Bildung.

Über die Expertise

Die Expertise „Woher und Wohin 2024“ stellt zentrale Befunde zahlreicher Schul­leistungsstudien mit Fokus auf die herkunfts­bedingten Unterschiede umfassend dar. Berücksichtigt wurden nicht nur verschiedene Schul­leistungsstudien – angefangen bei PISA, TIMSS und IGLU über ICILS und ICCS bis hin zum IQB-Bildungstrend –, sondern auch Daten aus dem nationalen Bildungsbericht und dem NEPS-Panel. Zudem wurden die jeweiligen Ergebnisse auch im Zeitverlauf betrachtet und verschiedene Kompetenz­bereiche in den Blick genommen: Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften, computer- und informations­bezogene Kompetenzen und politisches Wissen. Mit der Erstellung der Expertise hat die Wübben Stiftung Bildung ein Wissenschaftlerteam der Universität Osnabrück, der Universität Duisburg-Essen, der Ruhr-Universität Bochum und der TU Dortmund beauftragt. Zu den Autorinnen und Autoren von „Woher und Wohin 2024“ gehören:
  • Vertr.-Prof. Dr. Matthias Forell, Universität Osnabrück
  • Prof. Dr. Isabell van Ackeren-Mindl, Universität Duisburg-Essen
  • Prof. Dr. Gabriele Bellenberg, Ruhr-Universität Bochum
  • Prof. Dr. Esther Dominique Klein, TU Dortmund
  • unter Mitarbeit von Philipp Matthes, Ruhr-Universität Bochum

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