Berichterstattung

„Die Lehrkräfte geben alles, treffen aber auf ein komplexes System“

Marius Elfering durfte die Herbert-Grillo-Gesamtschule ein Jahr lang begleiten. Er erzählt, welche Erlebnisse prägend für ihn und seine Hörfunkreportage waren.

„Es gibt Momente, da kommt mir Flavia in den Sinn. Dieses ruhige, kluge Mädchen aus Rumänien. Ein Jahr musste sie zu Hause warten, um einen Platz in einer Vorbereitungs­klasse zu bekommen und später in die Regel­klasse an der Herbert-Grillo-Gesamtschule zu wechseln. Und da war noch ein anderes Mädchen, das ich gerne vors Mikrofon bekommen hätte. Ihr Potenzial, so schien es mir, konnte sie nicht ausschöpfen. Zu schwierig waren die Ver­hältnisse zu Hause. Die beiden Schülerinnen lernte ich im Zuge meiner Recherchen an der Schule in Duisburg-Marxloh kennen. Ein Jahr lang durfte ich Gast an der Schule sein, um eine Hörfunkreportage zu produzieren. Ich war genau auf der Suche nach einer solchen Schule, an der sich alle denkbaren Probleme schulischer Bildung bündeln. Und so verbrachte ich im Schuljahr 2023/24 ein Viertel meiner Arbeitszeit in Duisburg-Marxloh, vier bis fünf Tage im Monat. Ich sprach mit etwa 50 Menschen und sammelte Hunderte Gigabyte an Tonmaterial, um daraus eine zweieinhalbstündige Langzeit­dokumentation zu erstellen.

„Die Kinder und Jugendlichen im Brennpunkt trifft so was härter. Sie leiden darunter.“

Mein Ziel war, am Beispiel dieser Schule mit dem Sozialindex 9 das System Schule zu erklären. Ein absurdes Vorhaben, wie ich heute weiß. Es ist viel zu komplex. Aber vieles von dem, was ich an der Schule hautnah erleben durfte, steht für die vielen Probleme, die ineinander­greifen und zu einem großen Problem werden. Ich denke da an einen besonders heißen Sommer­tag. Es standen mal wieder Bauarbeiten in der Schule an, kein Tag ohne Gerüst. Es hatte sich so viel Baustaub gesammelt, dass akute Gesundheits­gefahr bestand. Die Schule ging daraufhin wie damals in den Coronamodus über. Heißt, es wurde im Zweischichtbetrieb unterrichtet mit je der Hälfte der Schülerschaft. Ja, an deutschen Schulen herrscht Sanierungs­­stau, die Arbeiten müssen gemacht werden. Aber die Kinder und Jugendlichen im Brennpunkt treffen erschwerte Lernbedingungen härter. Sie leiden mehr darunter. Und dann das Internet. Alle Schülerinnen und Schüler der Herbert- Grillo-Gesamtschule haben zu Schuljahresbeginn ein iPad zur Verfügung gestellt bekommen. Aber wenn das Netz immer wieder gestört ist, können die Lehrkräfte den digitalen Unterricht nicht zuverlässig planen. Das lähmt den Unterricht an einer Schule wie dieser zusätzlich.

„Die Lehrerinnen und Lehrer versuchen unter massivem persönlichem Einsatz, die vielen Probleme zu lösen.“

Die Sprachbarrieren in Duisburg-Marxloh sind sicher eine der größten Heraus­forderungen für die dortigen Schulen. Die Lehrerin Pinar Altug schildert in meiner Reportage eine ganz alltägliche Situation: An Eltern­abenden sitzen oft mehrere Lehrkräfte in der Klasse, um zu übersetzen. Denn viele Eltern sprechen kaum oder gar nicht Deutsch. Das war für mich ein Schlüsselmoment und ist die Kernbotschaft meines Hörfunk­beitrags: Die Lehrerinnen und Lehrer versuchen unter massivem persönlichem Einsatz, die vielen Probleme zu lösen. Bevor Regel­unterricht überhaupt stattfinden kann, geht es oft erst mal darum, sich den Schülerinnen und Schülern und ihren persönlichen Anliegen zu widmen. Die Lehrkräfte geben alles, treffen aber auf ein komplexes System. Und dieses scheint nicht änderbar. Trotzdem verzweifeln sie nicht daran! Es stehen sich einfach zwei sehr unterschiedliche Ebenen gegenüber.

„Ich war erstaunt, wie offen alle von ihrem Alltag an der Schule erzählt haben. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Auf die Reportage gab es viel Feedback. Eine Lehrerin einer gut situierten Schule meinte, sie sei froh, in ihrem Paradies unterrichten zu können. Pinar Altug kann mit solchen Aussagen wenig anfangen. Für sie ist die Herbert- Grillo-Gesamtschule das Paradies. Hier herrscht ein ganz anderer Grad der Motivation. Ich habe sehr tiefe Gespräche unter anderem mit ihr und mit Katharina Kremer, der anderen Klassenlehrerin der zehnten Klasse, geführt. Und ich war erstaunt, wie offen alle von ihrem Alltag an der Schule erzählt haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Mit den beiden Lehrerinnen stehe ich immer noch in Kontakt. Mit den Schülerinnen und Schülern nicht. Zu Beginn einer solch langen Recherche mache ich immer deutlich, dass meine Zeit dort begrenzt ist, irgendwann ein Ende hat. Das heißt nicht, dass ich nicht hin und wieder an einige von ihnen denke. So an Flavia, die als Zweitbeste die zehnte Klasse ab­schließen konnte. Oder an das andere Mädchen aus schwierigen familiären Verhältnissen, mit dem ich so gerne vor dem Mikrofon gesprochen hätte, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie hat den Schulabschluss leider nicht geschafft.“
Foto: © Marius Elfering

Marius Elfering ist freier Hörfunkjournalist. Er pro­duziert Beiträge unter anderem für den WDR und den Deutschland­funk. Elfering war 2023 Fellow des Nina Grunenberg Fellowship, einem Weiter­­bildungs­­stipendium für Bildungs­journalistinnen und -journalisten, das von Publix vergeben und von drei Stiftungen gefördert wird: der Schöpflin Stiftung, der Wübben Stiftung Bildung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Seine Hörfunk­reportage „Das kriselnde Klassenzimmer“ ist auf Deutschlandfunk Kultur abrufbar (Hinweis der Redaktion: Der verlinkte Beitrag ist derzeit nicht mehr online verfügbar. Grund dafür sind gesetzliche Vorgaben, die eine Bereitstellung nur für sechs Monate erlauben. Eine Wiederholung der Sendung wird aktuell geprüft. Sollte sich hier etwas ändern, informieren wir Sie entsprechend).

Flure wie diesen ist Marius Elfering häufig auf- und abgelaufen. Er durfte die Herbert-Grillo-Gesamtschule ein Jahr lang begleiten. Foto: © Marius Elfering
850 Schülerinnen und Schüler der fünften bis zehnten Klassen besuchen die Herbert-Grillo-Gesamtschule in Duisburg-Marxloh. Die Schule hat den Sozialindex 9. Foto: © Wübben Stiftung BIldung/Martin Magunia
Einige der Herausforderungen, die Marius Elfering an der Gesamtschule identifiziert hat: Baumaßnahmen in der Umgebung, ein instabiles Internet und Sprachbarrieren. Foto: © Marius Elfering
Die Bilanz des Hörfunkjournalisten nach einjähriger Recherche: Die Lehrkräfte zeigen tagtäglich überbordenden Einsatz und meistern die alltäglichen Hürden bestmöglich. Foto: © Marius Elfering

Tag

Eine Antwort

  1. Welche Strategien habt Ihr in Euren Teams entwickelt, um Lehrkräfte zu unterstützen und den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


… im Postfach

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit den besten Geschichten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Bitte beachte unsere Netiquette.

Auf SchuB möchten wir den fachlichen Austausch der Schulen im Brennpunkt untereinander fördern. Daher freuen wir uns sehr über Eure Meinung zu unseren Beiträgen. Für einen respektvollen und konstruktiven Austausch bitten wir Euch folgende Regeln zu beachten:
Wir danken Euch für Eurer Verständnis und Eure Mitwirkung und wünschen Euch viel Freude beim Kommentieren.

Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?

Bitte aktiviere JavaScript in deinem Browser, um dieses Formular fertigzustellen.
Wie sind Sie auf uns Aufmerksam geworden