Ausstieg aus dem Schuldienst

„Meiner Fürsorgepflicht konnte ich zunehmend nicht mehr gerecht werden“

Nach 25 Jahren zieht Georg Beckschwarte einen Schlussstrich unter sein Leben als Lehrer und Schulleiter. Im Interview erzählt er, warum er aufhört, obwohl er seinen Job liebt.

Herr Beckschwarte, mit welchen Visionen sind Sie Lehrer geworden?

Georg Beckschwarte: Ich kam auf Umwegen zur Schule. Nach meinem Theologiestudium war ich zunächst katholischer Priester, habe dann aber rasch gemerkt, dass der kirchliche Dienst für mich nicht funktioniert. Da ich häufig Religion an Grundschulen unterrichtet habe, lag für mich der Gedanke an eine Schullaufbahn nahe. Mit 30 habe ich begonnen, Grundschullehramt zu studieren, und seit 1999 war ich durchgängig im Schuldienst. Erst in Bochum, dann als Schulleiter in Duisburg. Ich habe sehr gerne Bildungsprozesse begleitet – im Fokus stand für mich aber stets der Kontakt mit den Kindern. Für sie als Erwachsener da zu sein, mit ihnen zu sprechen, ihnen zuzuhören und gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen, hat mir sehr viel Spaß gemacht.

Warum haben Sie dann den Schuldienst verlassen?

Beckschwarte: Als Schulleiter bin ich dafür zuständig, allen Kindern gute Arbeits- und Lebensbedingungen zu bieten. Aber meiner Fürsorgepflicht konnte ich zunehmend nicht mehr gerecht werden. Stattdessen war ich gezwungen, den organisatorisch-strukturellen Mangel zu verwalten. Ich habe täglich erlebt, wie die Kinder durch diese Mangelwirtschaft Schaden nehmen. Gelegentlich habe ich mich gefragt, ob hier wirklich das Wohl der Kinder im Vordergrund steht oder dieses nicht vielmehr deswegen gefährdet ist, weil sie in der Schule nicht immer das bekommen, was sie seelisch so dringend benötigen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Beckschwarte: Ein Mädchen mit einer Kommunikationsstörung konnte an manchen Tagen das Klassenzimmer nicht betreten, ihr ist der Schritt in den Raum nicht gelungen. Es wäre Aufgabe der Schulsozialarbeit gewesen, sich um dieses Kind zu kümmern. Aber hier gab es keine oder ständig wechselnde Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. An manchen Tagen konnte die jeweilige Lehrkraft das Mädchen überreden. Glückte das nicht, blieb es vor der Tür stehen.

Foto: © Katharina Kemme

Georg Beckschwarte leitete in Duisburg die KGS Abteigrundschule und anschließend die Katholische Grundschule Goldstraße Seit Januar 2024 ist er der Leiter der ökumenischen Telefonseelsorge Duisburg Mülheim Oberhausen. 

„Die klassische Ausbildung zur Lehrkraft bereitet eine Referendarin oder einen Referendar auf eine Klasse mit wenigen Kindern mit besonderen Bedürfnissen vor."

Sie haben Schulen in besser und schlechter situierten Stadtteilen geleitet. Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen Schulen im Brennpunkt?

Beckschwarte: Eigentlich kämpfen alle mir bekannten Schulen mit den gleichen Problemen, sie sind nur unterschiedlich stark ausgeprägt. Ich habe beispielsweise eine Grundschule geleitet, die anfangs in einem gutbürgerlichen Einzugsgebiet lag. Aber das Gebäude war in einem sehr maroden Zustand. Im Winter konnten wir manche Räume nicht richtig beheizen, es bildete sich Schimmel. Hinzu kam, dass in einer Nacht-undNebel-Aktion ein Busshuttle ins Leben gerufen wurde, der Kinder und Jugendliche aus einer überfüllten Schule aus einem anderen, stark belasteten Stadtteil zu uns brachte. Die Schülerinnen und Schüler waren teilweise anders sozialisiert oder sprachen kaum Deutsch. Ich habe mir in der Kommunikation mit der Stadt, der Bezirksregierung und der Schulaufsicht förmlich den Mund fusselig geredet, doch es gab keine Möglichkeit, etwas an der belastenden Situation für unsere Schule zu verändern. Jeden Tag ohnmächtig die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit erleben zu müssen hat mich schließlich in den Burnout getrieben. Ich bin dadurch über ein Jahr ausgefallen.

Nicht nur die Kinder werden alleine gelassen, sondern auch die Schulleitungen und Lehrkräfte?

Beckschwarte:  Ja. Die klassische Ausbildung zur Lehrkraft bereitet eine Referendarin oder einen Referendar auf eine Klasse mit wenigen Kindern mit besonderen Bedürfnissen vor. Inzwischen hat aber ein Drittel oder sogar die Hälfte der Klasse unterschiedlich gelagerte Probleme. Die Lehrkräfte verfügen einfach nicht über die Kapazität, sich um Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Auf der Feier zum zehnjährigen Jubiläum der Wübben Stiftung Bildung in Berlin sagte ein Kollege: Wir haben kein Erkenntnisproblem, denn wir wissen, woran die Schulen leiden. Wir haben ein Handlungsproblem. 

Warum wird denn nicht gehandelt?

Beckschwarte: Das zu beantworten ist sehr schwierig. Ich könnte mir vorstellen, dass Schulen nicht im Fokus der Landespolitik stehen. Ebenfalls auf der besagten Jubiläumsveranstaltung sagte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst, dass er sich möglichst von der Schulpolitik ferngehalten habe. Das ist bezeichnend, wenn auch ein Stück weit nachvollziehbar. Hätte man mich vor zwei Jahren bei der Neuaufstellung der Landesregierung gefragt, ob ich Schulminister von Nordrhein-Westfalen werden wollte, hätte ich abgelehnt. Ich habe für das gesamte System auch keine Idee, und die Bürokratie bringt viele Hürden mit sich. 

Sie beschreiben den Mangel im Schulsystem, gleichzeitig verschärfen Sie durch Ihr Ausscheiden den Engpass an Lehrkräften. Haben Sie deshalb manchmal ein schlechtes Gewissen?

Beckschwarte: Nein, denn ich setze damit auch ein Zeichen. Das Kollegium und die Elternvertreterinnen und Elternvertreter, denen ich meine Pläne frühzeitig mitgeteilt habe, konnten mich verstehen. Vielleicht wäre es für mich etwas anderes gewesen, wenn ich auf der anderen Seite des Schulleiterschreibtisches gesessen hätte. Wenn ich der hätte sein können, der Ressourcen einfordert. Mir hat es zugesetzt, den überlasteten Kolleginnen und Kollegen und den Kindern keine Lösungen anbieten zu können. 

Nie mehr Klassenzimmer: „Meiner Fürsorgepflicht konnte ich zunehmend nicht mehr gerecht werden.

Die Katholische Grundschule Goldstraße – bis Ende 2023 war Georg Beckschwarte hier Schulleiter.

„Die Kinder würden in selbst gewählten Projekten arbeiten, sie dürften sich ihre Bezugspersonen aussuchen und hätten die Freiheit, über das zu bestimmen, was ihnen wichtig ist.“

Wie sähe eine Grundschule aus, an der Sie weiter und gerne als Schulleiter tätig wären?

Beckschwarte: Ich stelle mir als ideale Schule eine Ansammlung von kleinen Freilufttheatern vor, an denen sich morgens jeweils etwa 20 Kinder und Jugendliche mit ihren Bezugspersonen treffen und den Tag besprechen. Die Kinder würden in selbst gewählten Projekten arbeiten, sie dürften sich ihre Bezugspersonen aussuchen und hätten die Freiheit, über das zu bestimmen, was ihnen wichtig ist: Einige möchten vielleicht malen, andere Buchstaben lernen. Für all diese Bedürfnisse gäbe es entsprechende Angebote, zusätzlich Pflichtfächer für die Vermittlung der Basisfähigkeiten. Außerdem müsste die Schule über ein permanent laufendes Bewegungsangebot verfügen sowie eine Mensa, in der die Kinder jederzeit essen oder trinken können. Man darf nicht vergessen, dass zum offiziellen Bildungs- und Erziehungsauftrag in den vergangenen Jahren ein Versorgungsauftrag sowie ein Betreuungsauftrag an den Nachmittagen hinzugekommen sind. Am Ende des Tages trifft man sich wieder im Freilufttheater und berichtet beziehungsweise präsentiert den Ertrag der Arbeit. Ich bin überzeugt, dass wir durch ein solches projektbezogenes Lernen Kinder viel besser in ihrer Motivation und dem Wunsch, zu lernen, unterstützen könnten. 

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