Lernkonzepte

„Viele Kinder gehen mit uns das erste Mal in den Wald“

Raus aus dem Klassenzimmer, lernen in der Natur: Schulleiterin Alma Tamborini beschreitet mit ihren Schülerinnen und Schülern neue Wege – und ist damit überaus erfolgreich.

Stellen Sie sich vor, Sie wären noch mal Schülerin. An welchem Ort würden Sie am liebsten lernen?

Alma Tamborini: Ich glaube, ich würde alles außerhalb des Klassenraums toll finden. Ich liebe Pferde, weshalb ich auf einem Pferde- oder Bauernhof vermutlich besonders glücklich wäre. Rückblickend kann ich sagen, dass ich als Kind wohl total dankbar gewesen wäre, mal aus der Schule rauszukommen und anderswo zu lernen.

Im Rahmen des Projektes „Lernen neu denken“ teilen Sie die Klassen auf: Eine Gruppe bleibt in der Klasse, die andere lernt an einem sogenannten außerschulischen Lernort (siehe auch Infokasten, Anm. der Redaktion). Erzählen Sie uns davon.

Tamborini: An einem Tag geht eine Hälfte der Klasse an einen außerschulischen Lernort, und am Folgetag ist die andere Hälfte dran. Das ist aufwendig, denn wir schicken jede Woche 20 Teilgruppen, bestehend aus jeweils 13 Kindern, los. Begleitet werden sie von je zwei Teamerinnen oder Teamern, so nennen wir die Studierenden, die uns unterstützen. Der außerschulische Lernort kann der Bauernhof Schulte-Tigges sein, ein Wald in der Nähe, ein Gemeinschaftsgarten oder die Erlebniswelt am Fredenbaum, eine Jugendfreizeitstätte des Jugendamtes Dortmund mit Klettergarten. Im Moment machen wir das mit zehn Klassen, also mit allen ersten bis dritten Klassen. Das ist nicht die Regel, aber dank zusätzlicher Fördermittel können wir jede Klasse aktuell zweimal in der Woche teilen.

Wechseln Sie die Lernorte, oder bleibt es bei einem?

Tamborini: Es gehen immer dieselben Kinder an immer denselben Lernort. Genau das ist das Erfolgsgeheimnis dieses Projektes, das nachhaltiges Lernen zum Ziel hat. Von den Pädagoginnen und Pädagogen vor Ort hören wir, dass es gute sechs Monate dauert, bis unsere Kinder an ihrem Lernort richtig angekommen sind. Sie müssen ihn ausgiebig kennenlernen und erkunden. Dann haben sie so viel Vertrauen in den Ort, dass sie sich dort selbst ausprobieren können. Es geht hier wirklich um eine Konstante: Sie erleben den Ort in all seinen Facetten und im jahreszeitlichen Wandel. Am Anfang hatten wir das noch anders gemacht: vier Wochen Bauernhof, vier Wochen Wald, vier Wochen Theaterprojekt. Aber das funktionierte nicht! Das Ganze hatte mehr Freizeitcharakter als einen nachhaltigen Lerneffekt. Daraus konnte nichts Beständiges erwachsen.

Foto: © Peter Gwiadza

Alma Tamborini ist Schulleiterin der Nordmarkt-Grundschule in Dortmund.

„In Klassen, die schon länger an dem Projekt teilnehmen, gibt es deutlich weniger Konflikte unter den Schülerinnen und Schülern."

Was überzeugt Sie an dem Konzept?

Tamborini: Viele unserer Schülerinnen und Schüler bleiben dem Unterricht oft unentschuldigt fern. An Tagen jedoch, wenn die Klasse aufgeteilt wird und es nach draußen geht, ist die Anwesenheitsquote deutlich höher. Sie schätzen dieses Format, übrigens auch den geteilten Unterricht in der Klasse. Was uns besonders freut: In Klassen, die schon länger an dem Projekt teilnehmen, gibt es deutlich weniger Konflikte unter den Schülerinnen und Schülern.

Wo lernt es sich besser: in der Klasse oder im Wald?

Tamborini: Wir beobachten in unseren dritten Klassen, dass Inhalte, die an außerschulischen Lernorten gelernt wurden, häufig zu tieferem Verständnis führen und nicht so schnell vergessen werden. Da die weitere Förderung des Projektes aber davon abhängt, dass diese Effekte nachzuweisen sind, arbeiten wir im Rahmen eines Forschungsprojektes mit der TU und der FH Dortmund zusammen. „Lernen neu denken“ ist das aufwendigste Projekt, das ich als Schulleiterin je an meiner Schule hatte – wir bangen immer darum, ob und in welchem Umfang es weitergeht. Es ist aber auch das erste Projekt, das den Unterricht an unserer Schule so verändert und weiterentwickelt. Es lohnt sich, darum zu kämpfen, dass es weitergeht!

Was macht das denn mit den Kindern? Was erleben und erfahren Ihre Schülerinnen und Schüler, was ihnen bisher verwehrt blieb?

Tamborini: Es ist kein Klischee, tatsächlich gehen viele unserer Kinder mit uns zum ersten Mal in einen Wald. Manche denken wirklich, sie würden dort Affen begegnen. Viele Kinder haben überdies keinerlei Vorstellung davon, wie Lebensmittel hergestellt werden, geschweige denn, was Nachhaltigkeit bedeutet. Das sind alles Dinge, die man nur schwer im Klassenzimmer vermitteln kann. Also gehen wir raus mit ihnen. In der Natur können die Kinder die Welt erkunden und Erfahrungen sammeln. Wenn sie zurück in ihre Klassen kommen, sprudeln sie vor Tatendrang. Sie berichten ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden begeistert, was sie erlebt haben. Ganz nebenbei ist das für ihre Sprachentwicklung enorm förderlich.

Andere Schulleiterinnen und Schulleiter fragen sich nun, wie dieses Lernkonzept zum regulären Lehrplan passt. Müssen Schulen beispielsweise auf Mathestunden verzichten, da die Kinder ja jede Woche einige Stunden unterwegs sind?

Tamborini: Verzichten muss man auf nichts. Ganz im Gegenteil: Ich schaffe in einer Unterrichtsstunde mit der Hälfte der Klasse so viel wie sonst mit der gesamten Klasse an drei Tagen. Das ist eben genau eines der vielen Erfolgsgeheimnisse des Projektes. Wir arbeiten viel effektiver. Ansonsten orientiert sich auch das Lernen an außerschulischen Lernorten an Themen, die im Jahresverlauf geplant sind. Wir setzen uns im Team zusammen und legen fest, welche Unterrichtsinhalte draußen stattfinden können und welche wir regulär in der Schule vermitteln.

Während ein Teil der Kinder in der Klasse unterrichtet wird…

… lernt die anderen Hälfte der Klasse an einem außerschulischem Lernort, beispielsweise einem Bauernhof.

„Ich schaffe in einer Unterrichtsstunde mit der Hälfte der Klasse so viel wie sonst mit der gesamten Klasse an drei Tagen. Das ist eben genau eines der vielen Erfolgsgeheimnisse des Projektes.“

Frau Tamborini, die Idee hinter „Lernen neu denken“ hat sich bereits vielerorts bewährt. Welche Pläne haben Sie mit dem Projekt?

Tamborini: Als wir während der Coronapandemie mit der Wübben Stiftung Bildung und einer Vertreterin des Bildungsbüros der Stadt zusammensaßen und von unseren Ideen erzählten, hieß es: „Und warum machen wir es nicht einfach?“ Innerhalb kürzester Zeit erhielten wir die nötigen Mittel und bauten ein Netzwerk aus. Man braucht starke Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Menschen an den entscheidenden Stellen, die sagen: „Das machen wir!“ So haben wir viel bewegen können. Als Nächstes würden wir gerne unsere Teamerinnen und Teamer enger mit unserer Schulsozialarbeit verknüpfen und ihnen Fortbildungen ermöglichen. Die vielfältigen Erfahrungen mit den Kindern stärken ja auch die Studierenden. Ich hoffe, dass es weitergeht. Das Projekt hat unsere Schule und somit die Bildung unserer Kinder nachhaltig positiv verändert.

„Lernen neu denken“ kurz erklärt

2020 hat Alma Tamborini gemeinsam mit ihrer Rektoren-Kollegin Christiane Mika von der Libellen-Grundschule das Projekt „Lernen neu denken“ ins Leben gerufen. Anlass waren die pandemiebedingten Schulschließungen, die enorme Lernrückstände bei den Schülerinnen und Schülern sowie soziale Isolationen zur Folge hatten. Das Konzept von „Lernen neu denken“: Schulklassen werden möglichst über das gesamte Schuljahr hinweg wöchentlich geteilt. Die eine Hälfte der Klasse geht – begleitet von Studierenden und einer Pädagogin oder einem Pädagogen – an einen außerschulischen Lernort. Dies kann ein Lernbauernhof sein oder ein nahe gelegener Wald. Die Kinder befassen sich dort ganzheitlich mit einem Lernthema, während die andere Hälfte der Klasse in der Schule intensiv und individuell von einer Lehrkraft unterrichtet wird. Oft werden hierbei die Kernkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen gezielt gefördert. Finanziell und organisatorisch unterstützt wird das Projekt vom Bildungsbüro und dem Jugendamt der Stadt Dortmund, inzwischen fördert auch die Dortmund Stiftung als Hauptförderpartner neben weiteren Unterstützern das Engagement. Das Konzept macht in Dortmund Schule: Seit der erfolgreichen Pilotphase 2020 setzen es inzwischen sechs Grundschulen und eine Förderschule im Primarbereich (Stand April 2024) um. 

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