Sprachförderung

Über die Regelzeit hinaus

2023 machte die Gräfenauschule in Ludwigshafen Schlagzeilen, weil 40 Kinder die erste Klasse wiederholen mussten. Seitdem ist einiges passiert – doch es reicht nicht aus.

Fast 500 Kinder besuchen die Grundschule Gräfenauschule in Ludwigshafen. Mehr als 95 Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund, 90 Prozent von ihnen sind förderbedürftig in Deutsch, über ein Drittel hat nahezu keine Deutschkenntnisse. Das ist die Ausgangslage für Schulleiterin Barbara Mächtle, die im Frühjahr 2023 in überregionalen Zeitungen davon berichtete, dass 40 ihrer knapp 150 Erstklässlerinnen und Erstklässler die Klasse wiederholen mussten. Hauptgrund: Sprachbarrieren, die einen regulären Unterricht unmöglich machen. Die traurige Gewissheit: Auch in diesem Schuljahr werden wahrscheinlich wieder etwa 44 Kinder an der Gräfenauschule die erste Klasse, knapp zehn Kinder die zweite Klasse und jeweils um die zehn bis 15 Kinder die dritte und vierte Klasse wiederholen. 

Profilbilder der Schülerinnen und Schüler mit Angabe der Sprachkenntnisse zeigen die kulturelle Vielfalt an der Schule.

Deutschkenntnisse, die einfach nicht ausreichen

Einige dieser Mädchen und Jungen werden „Seiteneinsteigerkinder“ genannt. Ein umstrittener Begriff. Er beschreibt jene Kinder, die ohne die erforderlichen Deutschkenntnisse gemäß ihrem Alter in die entsprechende Grundschulklasse kommen, vorher aber keine Kita oder Schule in Deutschland besucht haben. So startet ein Kind beispielsweise aufgrund seines Alters direkt in der dritten Klasse, obwohl es sprachlich dazu nicht in der Lage ist. „Woanders mag es vielleicht funktionieren, Kinder mit nicht vorhandenen oder schlechten Deutschkenntnissen in die für sie vorgesehenen Klassen aufzunehmen. An meiner Schule geht das nicht“, macht Mächtle deutlich. 

Sport, Nachbarschaft, Kita: Schülerinnen und Schüler mit nicht deutscher Herkunft kommen üblicherweise automatisch mit der deutschen Sprache in Berührung. Nicht so in Hemshof. „Bei uns im Stadtteil sind die Fachkräfte an unserer Schule oft die einzigen Sprachvorbilder“, so Mächtle. „Das Erschreckende ist, dass selbst jene Kinder Sprachprobleme haben, die hier geboren sind.“ Das liege auch daran, dass man in diesem Ludwigshafener Stadtteil eben ganz gut ohne Deutsch klarkommt. 

Barbara Mächtle steht mit diesem Problem nicht alleine da. Viele Schulen im Brennpunkt sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, mit den mangelnden Sprachkenntnissen der Schülerinnen und Schüler umzugehen. Die Umfrage „Schule im Brennpunkt 2023“ der Wübben Stiftung Bildung zeigt, dass Kinder an Schulen im Brennpunkt mit deutlich schwierigeren Lernvoraussetzungen ins Schulleben starten. Sie haben den höchsten Unterstützungsbedarf im Bereich der Sprachkompetenzen und viele von ihnen eine längere Grundschulzeit, da sie eine oder mehrere Klassen wiederholen müssen. Im Durchschnitt geben die befragten Schulleitungen an, dass dies bei 22,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler der Fall ist. Die Situation an der Gräfenauschule ist daher kein Einzelfall. 

„Bei uns im Stadtteil sind die Fachkräfte an unserer Schule oft die einzigen Sprachvorbilder“

Zusätzliche Unterrichtsstunden: Der Lehrplan für Deutsch reicht für viele Kinder nicht aus, um die Sprache zu lernen. 

Trotz vieler Mühen werden um die 80 Schülerinnen und Schüler der Gräfenauschule das Schuljahr wiederholen müssen. 

Mehr Stunden – ausbleibender Effekt

Das bestätigt Klaus-Peter Hammer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Rheinland-Pfalz. Das Problem „Seiteneinsteigerkinder“ müsse viel ernster genommen werden. Schulen dürften da nicht sich selbst überlassen werden. Und tatsächlich habe die Grundschule Gräfenauschule aufgrund ihrer besonderen Situation bereits in vergangenen Schuljahren zusätzliches Personal erhalten, so eine Sprecherin des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums. Darüber hinaus gebe es weitere Unterstützungsprogramme und Projekte, zum Beispiel Lehrerwochenstunden für zusätzliche Sprachförderung. Auch die Schulsozialarbeit sei gestärkt worden. 

Barbara Mächtle bekommt also Extrastunden für den Deutschunterricht, die die Lehrerinnen und Lehrer, die eine Klasse leiten, aber erst nach der regulären Unterrichtszeit einsetzen können. Ein- bis zweimal eine Stunde Deutschunterricht in der fünften Stunde sei aber bei Weitem nicht so effektiv wie ein täglicher Intensivkurs in den ersten beiden Stunden von einer ausgebildeten DaZ-Kraft (DaZ steht für „Deutsch als Zweitsprache“). Aktuell gibt es an der Gräfenauschule nur eine DaZ-Vollzeitkraft. Weitere DaZ-Stunden werden von HSU-Lehrkräften (HSU steht für „Herkunftssprachen­unterricht“) gehalten, die die entsprechenden Fortbildungen dafür absolviert haben. „Je länger die Kinder brauchen, um Deutsch zu lernen, desto mehr vom regulären Unterricht verstehen sie nicht. Oder sie verpassen ihn durch die zeitgleich stattfindenden Deutschkurse“, beanstandet die Schulleiterin jedoch. 

Druck durch Öffentlichkeit

Den Medienrummel 2023 hatte Barbara Mächtle nicht erwartet. Für sie war das Problem der Klassenwiederholungen nicht neu. Sie erwähnte es in einem Gespräch mit einer Journalistin nur beiläufig. Dann kam der Ansturm. Wichtig sei ihr, die Kinder, Eltern und Lehrkräfte aus der Presse herauszuhalten, um den Schulbetrieb nicht zu stören. „Ich gebe nur ausgewählten Medien Interviews“, gibt Mächtle gerade medienunerfahrenen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg. Der Umgang mit Presseanfragen und die Interviews kosteten sie viel Zeit, sie sei im Nachhinein aber froh über die Entwicklung. Mächtle: „Ein bisschen hat sich dadurch schon bewegt.“ 

Motiviert durch die enorme Resonanz verfasste sie gemeinsam mit Lehrkräften und Eltern von anderen Ludwigshafener Schulen einen Brief an das rheinland-pfälzische Bildungsministerium. Es folgten Gespräche mit der Stadt und dem Ministerium. Zu Beginn des Schuljahres 2023/2024 konnte ihre Schule zudem am sogenannten „First Class“-Projekt teilnehmen: 16 Studierende von der RPTU Landau unterstützten sechs Wochen lang die Lehrkräfte beim Deutsch- und Mathematikunterricht. Oft ging es aber auch einfach darum, die Kinder in ihren feinmotorischen Fähigkeiten wie dem Stifthalten zu schulen. 

Barbara Mächtle beobachtet, dass im Stadtteil Hemshof die Fachkräfte an ihrer Schule oft die einzigen Sprachvorbilder für die Kinder sind.
Das Thema Spracherwerb muss laut Schulleiterin Barbara Mächtle auf politischer Ebene viel stärker in den Fokus gerückt werden.

Brände löschen

Darüber hinaus organisiert Barbara Mächtle, wie andere Grundschulen auch, die sogenannten Feuerwehrlehrkräfte für ihre und weitere Schulen im nahen Umkreis. Die Lehrerinnen und Lehrer werden mit einer gewissen Stundenanzahl an Schulen geschickt, an denen es sprichwörtlich brennt. „Das ist super, wenn beispielweise reguläre Lehrkräfte krank werden“, so die Schulleiterin. Zuverlässig planen lasse sich damit jedoch nicht. Und idealerweise solle es auch gar nicht erst zu einem Brand kommen. 

In den vergangenen Jahren habe sich laut Mächtle einiges bewegt. Grundschulen hätten zum einen die Möglichkeit bekommen, mit dem Ministerium konkrete Unterstützungsmaßnahmen zu besprechen. Zum anderen werden in Ludwigshafen drei Familiengrundschulzentren installiert. Dennoch müsse das Thema Sprachförderung noch stärker in den Fokus gerückt werden. „Das Problem muss auf höheren Ebenen angegangen werden, und ich habe nicht den Eindruck, dass wirklich lösungsorientiert an den Knackpunkten gearbeitet wird“, findet Mächtle. „Ich bräuchte mindestens zwei DaZ-Vollzeitkräfte für die über 170 Kinder, die kaum Deutsch sprechen“, fordert sie. „Und wenn man den Bildungsauftrag ernst nimmt, dann eigentlich fünf.“ Damit Kinder nicht weiter sitzen bleiben müssen, sondern vorankommen. 

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