Leseförderung

Die Kraft der Mehr­sprachigkeit nutzen

Aus einem alten Bücherregal im Keller wurde an der Kielhornschule ein preisgekröntes Projekt, das interkulturellen Austausch und Selbstbewusstsein fördert.

Bunte Sofas, gemütliche Sitzsäcke, eine von Schülerinnen und Schülern selbst gemalte Weltkarte an der Wand und mehr als zehn Regale gefüllt mit sorgfältig ausgewählten Büchern in verschiedenen Sprachen: So sieht es in der Interkulturellen Schulbücherei der Kielhornschule in Dortmund aus. 2024 gewann das Bücherei-Projekt den Deutschen Lesepreis in der Kategorie „Herausragende Leseförderung an Schulen“. Daraufhin erhielt die Schule viel Aufmerksamkeit: Die Schülerinnen und Schüler der Bücherei-AG stellten Seminar­gruppen von der Universität, Lehrkräften aus anderen Schulen und sogar dem Fernsehen selbstbewusst ihre Bücherei vor. „Die Mitglieder der Bücherei-AG waren so stolz, als sie sich im Fernsehen gesehen haben“, erinnert sich Sina Rademacher, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Cornelia Schulte das Projekt aus der Taufe hob.

Fehlender Zugang zu Büchern

Die Kielhornschule, an der die beiden Lehrerinnen unterrichten, ist eine Förderschule mit dem sonder­pädagogischen Unterstützungs­bedarf Lernen für die Sekundarstufe 1. Die gebundene Ganztagsschule liegt in der Dortmunder Nordstadt – einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit und Armut, in der Menschen mit verschiedensten Migrationsgeschichten leben. Im Frühjahr 2021 machten die befreundeten Lehrerinnen an ihrer Schule eine Umfrage unter den Schülerinnen und Schülern: Hast du ein Buch zu Hause? Warst du schon einmal in einer Bücherei? Ihr Eindruck aus dem Unterricht bestätigte sich: Die meisten Kinder haben durchaus Interesse an Büchern, es fehlt aber einfach der Zugang. In ihrer Schule gab es damals lediglich ein altes Bücherregal in einem Lagerraum im Keller. Die meisten Werke darin waren nicht mehr zu gebrauchen – kaputt, alte Rechtschreibung und inhaltlich aus der Zeit gefallen. Etwas Neues musste her. 

Gemeinsam erarbeiteten die Lehrerinnen in ihrer Freizeit ein Konzept und bewarben sich damit bei dem Schulentwicklungsfonds der Stadt Dortmund. Die Idee: Ein Raum sollte entstehen, in dem sich die Schülerinnen und Schüler aller Klassen wohlfühlen, Zugang zu Literatur in Deutsch und ihren Herkunftssprachen haben, Bücher finden, die die Diversität der Gesellschaft abbilden und in deren Charakteren sie sich selbst wiederfinden können. Es sollte ein Raum sein, in dem neben der Lesekompetenz auch interkulturelle und soziale Kompetenzen gestärkt werden. 

Die Idee kam gut an, und mit einem Budget von 7.000 Euro konnten die Lehrerinnen loslegen. „Uns war klar, wir schaffen das nur, wenn die Schülerinnen und Schüler von Anfang an mitmachen“, erklärt Schulte. Denn nach der Zusage für die Förderung fing die Arbeit erst richtig an. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern entrümpelten sie einen alten ungenutzten Raum, überlegten sich ein Raumkonzept, schraubten Regale zusammen und durch­forsteten das Internet nach geeigneten Büchern. Gerade Letzteres war gar nicht so einfach, denn die Bücher, die vom Leselevel her zu ihren Jugendlichen passen, sind üblicherweise inhaltlich eher für jüngere Kinder gedacht.

Heute haben die Schülerinnen und Schüler in der Bücherei viel Platz und viele An­regungen zum Lesen.
Literatur, die Spaß am Lesen und Wissen vermittelt – und gleichzeitig die Jugendlichen in ihrer positiven Selbst­wahrnehmung bestärkt.

„Je besser die Kinder ihre Herkunftssprache können, desto leichter fällt es ihnen auch, Deutsch zu lernen.“

Die Schulbücherei – ein gemütlich eingerichteter Ort zum Schmökern.

Von der Herkunftssprache zum Deutschverständnis

Bücher in den Herkunftssprachen der Kinder und Jugendlichen zu finden war ebenfalls schwierig, da die Lehrerinnen diese selbst nicht verstehen. Unterstützung erhielten sie unter anderem von dem Rumänischlehrer der Schule und Mitarbeitenden der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Doch warum fremdsprachige Bücher anschaffen, wenn es doch im Kern um den deutschen Spracherwerb geht? Cornelia Schulte hat dazu eine klare Meinung: „Je besser die Kinder ihre Herkunftssprache können, desto leichter fällt es ihnen auch, Deutsch zu lernen.“ Positive Leseerfahrungen seien wichtig, um das Selbstbewusstsein und die Lust am Lesen zu stärken. 

Klassen aller Jahrgänge nutzen die Bücherei für Unterrichtsstunden. Oder sie lassen sich von der Bücherei-AG, die seit dem vergangenen Schuljahr mit 13 Schülerinnen und Schülern der Klassen 5 bis 10 besetzt ist, eine Kiste mit Büchern zu einem Thema zusammenstellen. Die AG ist es auch, die Bastelaktionen oder Spielestunden in der Bücherei organisiert und durchführt, die zum Lesen und interkulturellen Austausch anregen sollen. Im Rahmen von Lesepatenschaften helfen Neuntklässlerinnen und -klässler ihren Mitschülerinnen und Mitschülern aus den fünften Klassen beim Lesen. Und Fachkräfte kommen mit ausgewählten Kindern zur individuellen Leseförderung in die Bücherei.

Cornelia Schulte (l.) und Sina Rademacher (r.) freuten sich über den Deutschen Lesepreis 2024, den die Kielhornschule in der Kategorie „Herausragende Leseförderung an Schulen“ erhielt. © Stiftung Lesen

„Das, was im Bildungssystem oft als Problem betrachtet wird, haben wir umgedreht.“

Stärke statt Last

Der Gewinn des Deutschen Lesepreises brachte 2.000 Euro ein. Was damit passiert, entscheiden die Lehrerinnen gemeinsam mit den Mitgliedern der Bücherei-AG. Auf jeden Fall soll das Projekt weiter ausgebaut werden. „Wir wollen auch im Quartier stärker aktiv werden“, sagt Schulte. So gibt es inzwischen eine Kooperation mit einer Kita. Einmal pro Monat lesen die Jugendlichen aus der AG dort vor. Darüber hinaus wollen die Initiatorinnen eine Inventarliste erstellen, die anderen Schulen als Inspiration dienen könnte, und überlegen, wie sie auch die Eltern besser einbinden können. „Das, was im Bildungssystem oft als Problem betrachtet wird, haben wir umgedreht“, meint Sina Rademacher. Kinder, die neben Deutsch zu Hause andere Sprachen sprechen, sind in der Schulbücherei Expertinnen und Experten statt Problemfälle.

Die Schülerinnen und Schüler der Kielhornschule sind keine Problemfälle, sondern Expertinnen und Experten in ihren Sprachen.

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