„Zehn, neun, acht …“ Holger Hansen steht auf einem Tisch in der Schulsporthalle, er hält ein Mikrofon in der Hand. Mit kräftiger Stimme zählt der Mathe- und Physiklehrer den Countdown herunter. 100 Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie jede Menge anderer gespannter Menschen stimmen lautstark mit ein. Nachdem sie bei der Eins angelangt sind, geht’s los.
Die Turnhalle der Klaus-Groth-Gemeinschaftsschule mit Grundschule in Kiel hat sich an diesem Herbstmorgen in den Austragungsort eines Schachturniers mit 17 Viererteams verwandelt. In den schmalen Rundbogenfenstern thronen überdimensionale Schachfiguren als Dekoration. Tische und Bänke sind wie in einem Festzelt aufgestellt und mit schwarz-weiß karierten Schachbrettern bedeckt. Der 13-jährige Andrei zieht konzentriert seinen Bauern. Jetzt ist sein Mitspieler aus der dritten Klasse an der Reihe. Die beiden kennen sich nur flüchtig vom Pausenhof – heute treten sie gemeinsam als Team an.
![](https://www.schub-magazin.org/wp-content/uploads/2025/01/KajaGrope_wuebben-Schachturnier-2024_11_HR-2220-1024x684.jpg)
![](https://www.schub-magazin.org/wp-content/uploads/2025/01/KajaGrope_wuebben-Schachturnier-2024_11_HR-2522-1024x684.jpg)
Schach als Brücke im bunten Viertel
Die Klaus-Groth-Gemeinschaftsschule mit dem efeubewachsenen Hauptgebäude aus Backstein liegt malerisch am Kieler Südfriedhof, eingebettet in ein Viertel mit bunten Reihenhäusern und Sozialwohnungen. Die Schule, die 500 Kinder und Jugendliche besuchen, gehört zum Startchancen-Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das Einrichtungen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler unterstützt.
An der Klaus-Groth-Gemeinschaftsschule kommen also Kinder aus unterschiedlichen Kulturen zusammen, und viele von ihnen tun sich schwer mit der deutschen Sprache oder der Konzentration im Unterricht. Doch an diesem Morgen zeigt sich, wie sich mit Schach diese und viele andere Herausforderungen meistern lassen. „Das Spiel wirkt manchmal Wunder“, sagt Holger Hansen, der das Schachprojekt an der Schule initiiert und ihr 2022 zum Qualitätssiegel „Deutsche Schachschule“ in Bronze verholfen hat. Eine Auszeichnung der Deutschen Schachjugend für bislang bundesweit 170 Schulen. „Ich spiele selbst und habe Schach 2016 in einer sogenannten Vorhabenwoche vorgeschlagen, in der wir den Schülerinnen und Schülern verschiedene Themen näherbringen“, erinnert sich Hansen.
Die Resonanz war riesig: So viele Kinder und Jugendliche haben sich angemeldet, dass sich der Lehrer Sets von einem Kieler Schachverein ausleihen musste. Und obwohl Hansen die positiven Effekte des Schachspiels kannte – logisches Denken, Geduld, Lernbereitschaft und Reaktionsfähigkeit –, war er überrascht. „Besonders Schülerinnen und Schüler mit ADHS, die im Unterricht schlecht stillsitzen können, waren am Schachbrett wie ausgewechselt: hoch konzentriert und völlig in das Spiel vertieft. Da wusste ich: Davon brauchen wir mehr.“
Inzwischen sind die Schachaktivitäten der Schule ein fester Bestandteil des pädagogischen Konzepts. Angeboten werden Schachunterricht in den zweiten und fünften Klassen, Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag, Schachpausen für alle Schülerinnen und Schüler sowie spezielle Angebote nur für Mädchen.
Ein Brettspiel für alle
An diesem Dienstag im November, als die Sonne golden in die Aula scheint, wird an der Kieler Schule bereits die zweite Ausgabe des Familien- und Freunde-Schachturniers ausgetragen. Die Idee dahinter: Kinder, die in der Schule Schach spielen, setzen das Spiel auch zu Hause fort. Ihre Eltern, die oft Berührungsängste mit der Bildungseinrichtung haben, begleiten sie dann gerne zum Event. „Heute sind viel mehr Schülerinnen und Schüler und deren Eltern da als beim letzten Mal. So darf es weitergehen“, freut sich Hansen, während er an den Tischen entlangschlendert und den Spielenden hier und da Tipps gibt.
Wer das Spiel anführt, lässt sich nicht am Alter ablesen. Die elfjährige Nicole hat ihre Mutter Agnieszka mitgebracht. „Ich habe ihr am Wochenende einen Crashkurs gegeben“, sagt die Tochter stolz. Die Mutter lacht unsicher und erklärt: „Eine Runde schaue ich noch zu, dann traue ich mich.“ Dass sich die Rollen beim Schach verdrehen können, findet Holger Hansen besonders gut: „Die Kinder und Jugendlichen werden zu Lehrenden. Das sorgt für neue Perspektiven.“
![](https://www.schub-magazin.org/wp-content/uploads/2025/01/KajaGrope_wuebben-Schachturnier-2024_11_HR-2279-2-1024x684.jpg)
![](https://www.schub-magazin.org/wp-content/uploads/2025/01/KajaGrope_wuebben-Schachturnier-2024_11_HR-2348-2-751x1024.jpg)
Jamil aus der fünften Klasse läuft umher und bietet Essen und Trinken an. Er liebt Schach und hat einmal sogar einen Konflikt mit einem Freund auf dem Brett anstatt auf dem Pausenhof ausgetragen. Jetzt hilft er beim Verkaufsstand mit Selbstgebackenem und Getränken. „Er hat eine Aufgabe, auch dafür sind Veranstaltungen wie das Turnier wichtig“, sagt Kirsten Stechmann aus der Schulleitung. Sie koordiniert den Bereich „Gemeinsames Lernen“ und beobachtet das Spiel vom Rand aus. „Die Kinder und Jugendlichen merken, dass sie etwas gut können, und dadurch trauen sie sich auch in anderen Bereichen mehr zu.“
In den Pausen zwischen den jeweils 15 Minuten langen Schachpartien toben einige Kinder herum, andere bleiben an den Tischen sitzen. Jalina, Hamza und Jakob aus der fünften Klasse probieren eine Taktik aus, bei der die Gegnerin oder der Gegner nach wenigen Zügen kaum noch Chancen auf einen Sieg hat. „Das Doofe ist, dass Hamza auch weiß, wie’s geht“, sagt Jalina, als ihr Mitschüler gewinnt. Aber das Mädchen nimmt es gelassen. Schließlich hat sie durch Schach auch das Verlieren gelernt.
Schach als Integrationshelfer
Die Achtklässlerinnen Fatima und Kokobe können sich in der Pause ebenfalls nicht vom Schach lösen. „In der Fünften war Herr Hansen unser Klassenlehrer“, erzählt die 14-jährige Sava, die ihren Freundinnen zuschaut. „Er hat immer wieder Schachstunden in den Unterricht eingebaut, und ich fand toll, dass es dabei so ruhig war.“ Als ihre Klasse 2021 Kontakt zu geflüchteten Kindern aus der Ukraine aufnahm, erwies sich das gemeinsame Schachspiel als Integrationshelfer. Holger Hansen: „Wir mussten uns irgendwie verständigen, aber beim Schach lernt man das wie von selbst.“
Am Ende des Turniers überreicht Holger Hansen zusammen mit dem Überraschungsgast Jasper Holtel, dem Deutschen Junioren-Meister 2019, die Pokale an die drei besten Teams. Doch nicht nur die offiziellen Siegerinnen und Sieger werden gefeiert. Jedes Kind erhält Applaus, eine Schachfigur als Schlüsselanhänger und Schokolade. Koordinatorin Kirsten Stechmann ist gerührt: „Woran erinnert man sich aus der Schulzeit? Ich denke, es sind Augenblicke wie dieser.“