Als Schülerin an der Anne-Frank-Gesamtschule in Dortmund nahmen Sie am NRW-Talentscouting teil. Wie kam es dazu?
Helbin Hassan: Ich hatte guten Kontakt zu einer Sozialarbeiterin des Kindertreffs in Dortmund-Eving, wo ich oft hinging. Sie schlug mir vor, mich an meiner Schule nach dem Talentscouting zu erkundigen. Ende der Jahrgangsstufe 11 bin ich dann auf meine Deutschlehrerin zugegangen und fragte, ob ich das einmal ausprobieren dürfte. Ich hatte keine großen Erwartungen, denn ich konnte mir nicht viel darunter vorstellen. Eigentlich dachte ich: „Was soll ich da? Ich bin ja noch nicht einmal musikalisch.“ Ich bin trotzdem dort gelandet, darüber bin ich sehr froh.
Woran hat die Sozialarbeiterin Ihr Potenzial erkannt?
Hassan: Ich habe mich schon als junges Mädchen engagiert, zum Beispiel mit Freundinnen und Freunden die Organisation der Schulbibliothek übernommen. Nachdem ich dann von der Realschule auf die Anne-Frank-Gesamtschule gewechselt bin, war ich bei den „Verfassungsschülern“. In der Gruppe diskutierten wir über Normen und Werte der Gesellschaft, Demokratie oder unsere Rechte. Auch innerhalb der Familie habe ich mich engagiert, zum Beispiel Briefe für meine Eltern übersetzt oder als Dolmetscherin fungiert. Denn meine Eltern kommen aus dem Irak und sprechen nicht so gut Deutsch. Das bekam die Sozialarbeiterin mit.
Wie ging es dann mit dem Talentscouting los?
Hassan: Ich habe schnell verstanden, dass das nichts mit musikalischer Begabung zu tun hat. Vielmehr sehen die Talentscoutinnen und -scouts das Potenzial der Jugendlichen – egal, in welchem Bereich. Ich habe viel über meine Zukunftspläne gesprochen, damals dachte ich noch an ein Jurastudium. Außerdem erzählte ich von meinem Engagement. Meine Beraterin sah meine Noten und empfahl mir, mich für ein RuhrTalente-Stipendium zu bewerben. Das hat geklappt! Ohne sie wäre ich darauf niemals gekommen.
Vom Schülerstipendium als Gesamtschülerin in der Dortmunder Nordstadt zur Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung: Helbin Hassan hat beim Talentscouting viel über sich und ihr Potenzial gelernt. Ihre Erfahrungen als „Erstakademikerin“ teilt die Lehramtsstudentin gerne mit anderen.
Wie würden Sie die Atmosphäre während der Gespräche an der Schule beschreiben?
Hassan: Ich hatte immer das Gefühl: Das ist meine Ansprechpartnerin, mit ihr kann ich über alles reden. Wir sprachen auch über private Probleme oder Dinge, die mich in der Schule belasteten. Manchmal ging es um Kleinigkeiten, wie etwa Ärger über Ideenklau. Die Talentscoutin hat mir dann eine andere Perspektive darauf gezeigt. Insgesamt war ich damals noch sehr selbstkritisch, aber sie hat mich aufgebaut. Das gab mir Selbstvertrauen.
Man hört viel Dankbarkeit heraus. Welchen Anteil hatte die Schule an Ihrem Werdegang?
Ursprünglich wollten Sie Jura studieren, nun werden Sie Lehrerin. Hat dieser Sinneswandel auch mit „Ihrer“ Schule zu tun?
Hassan: Ich habe mich in der Schule einfach immer wahnsinnig wohlgefühlt. Und ich mag es, anderen zu erklären, wie eine Sache funktioniert. Während eines Projektes durfte ich Kinder unterrichten, das hat mir großen Spaß gemacht. Innerhalb meines Schülerstipendiums äußerte ich dann den Wunsch, Lehrerin zu werden. Diesen Weg habe ich letztlich nur durch das Talentscouting eingeschlagen, weil es mich in meinem Tun bestärkt hat.
Die Talentförderung war also auch gut für Ihre Persönlichkeitsentwicklung?
Hassan: Auf jeden Fall! Als Jugendliche sieht man sein eigenes Potenzial oft gar nicht. Als selbstkritischer Mensch dachte ich, dass ich nicht genüge. Ich hätte nie geahnt, dass man mir mein Potenzial aufzeigt und dass ich so viel selbstbewusster werde.
Wie hat denn Ihr Umfeld die Förderung wahrgenommen?
Hassan: Meine Eltern haben nicht studiert. Dass ich an die Uni wollte, befürworteten sie und freuten sich über die Unterstützung. Im Freundeskreis habe ich das Talentscouting auch erwähnt und meine Freundinnen und Freunde über viele Themen wie Stipendien oder Schnupperkurse informiert.
Sie haben Ihr Wissen also auch weitergegeben?
Hassan: Ja, das habe ich immer gerne getan. Anfangs verstanden die Leute gar nicht, was ich da mache. Dann habe ich vieles erklärt, etwa, wie man sich für ein Stipendium bewirbt. Damit habe ich als Stipendiatin des Schülerstipendienprogramms RuhrTalente und inzwischen auch der Hans-Böckler-Stiftung Erfahrung. Die Informationen, die ich durch die Förderprogramme erhalten habe, waren also nicht nur für mich bereichernd, sondern auch für meine Freundinnen und Freunde.
Hat das Talentscouting Sie motiviert, sich auf ähnliche Art zu engagieren?
Hassan: Ja, ich engagiere mich im Verein InteGREATer, in dem junge Leute mit Migrationsbiografie Schülerinnen und Schüler motivieren, Pläne zu machen und an die eigenen Zukunftswünsche zu glauben. Ich bin dort eine Art Vorbild, indem ich in Schulklassen gehe und erzähle, dass es bei mir als „Erstakademikerin“ geklappt hat. Und dass man an sich selbst glauben muss.
Ihnen hat die Talentförderung viel gebracht. Haben Sie trotzdem Verbesserungsvorschläge?
Hassan: Was mir aufgefallen ist: Dieses Konzept erreicht relativ wenige Leute. Was schade ist, denn man erhält die geballte Unterstützung. Insofern finde ich es wichtig, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Informationen mit anderen teilen und für sie als Ansprechpersonen zur Verfügung stehen. Schließlich haben nicht alle das Glück, beim Talentscouting dabei zu sein.
Über das Talentscouting-Programm
Talente und nicht der familiäre Hintergrund sollten über den Bildungsweg bestimmen: Hier setzt das Talentscouting-Programm Nordrhein-Westfalen an. Mehr als 100 Talentscoutinnen und -scouts von 23 Hochschulen und Universitäten sind inzwischen in Hunderten weiterführenden Schulen in NRW unterwegs und unterstützen talentierte Jugendliche aus Nichtakademikerfamilien auf dem Weg in die Ausbildung oder ins Studium. Das NRW-Zentrum für Talentförderung koordiniert die Arbeit der Talentscoutinnen und -scouts.