Sozial-emotionales Lernen

Gefühle lernen – mit Bewegung

Das Programm „Bunter Ball“ kombiniert Sportunterricht mit der Vermittlung sozial-emotionaler Kompetenzen. Eine Schule in Witten macht mit – und lernt viel daraus.

Es fängt an mit kleinen Neckereien, der Ton wird schärfer, und wenn die richtigen Worte fehlen, dann wird es auch schon mal körperlich. Viele Lehrerinnen und Lehrer kennen diese Eskalationsspirale. An Schulen im Brennpunkt dreht sie sich oft schneller, sagt Patrik Werner: „Wir haben bei uns viele verschiedene Nationalitäten auf dem Schulhof. Da wird leicht mal mit Sand geworfen oder geschlagen, weil man sich nicht verständigen kann.“ Werner ist Sportlehrer an der Gerichtsschule Witten.  Die Schule hat den Schulsozialindex  7. Für das kommende Schuljahr wurde er auf 9 heraufgesetzt.

Der Index  gibt Aufschluss über die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft. Dabei ist 9 die höchste Stufe. Sie bedeutet: Hier gehen besonders viele Kinder zur Schule, die „ein Köfferchen zu tragen haben“, wie Werner es ausdrückt. Fehlende Sprachkenntnisse, Armut und individuelle Förderbedarfe gehören zu den Herausforderungen. Daraus folgen oft Konflikte im sozialen Miteinander, so der gelernte Sportwissenschaftler: „Gegenseitige Wertschätzung, ein respektvoller Umgang miteinander und Emotionen wahrzunehmen – daran fehlt es oft an unserer Schule.“

Genau da setzt das Programm „Bunter Ball“ an, das Patrik Werner an der Gerichtsschule Witten verantwortet. In einem Testlauf führt er es seit 2022 mit einer Klasse im Sportunterricht durch. Doch worum geht es dabei? Und was hat es mit dem Namen „Bunter Ball“ auf sich?

1. Was ist der „Bunte Ball“?

Das sportpädagogische Programm wurde von dem gemeinnützigen Verein In safe hands e. V. entwickelt und soll Grundschülerinnen und Grundschüler beim sozial-emotionalen Lernen unterstützen. „Der ‚Bunte Ball‘ kombiniert unter anderem Übungen zur Identifikation, Benennung und Regulation von Gefühlen mit sportlichen Aktivitäten“, erklärt Jonas Ermes, Vorsitzender und Mitinitiator von In safe hands e. V. „Dabei werden auch die motorischen Kompetenzen vermittelt, die der Lehrplan NRW für den Sportunterricht vorsieht.“ Sein Verein setzt sich seit 2015 für Chancengleichheit und die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern ein.

Das Programm ist auf vier Jahre ausgelegt und wird im Rahmen des regulären Sportunterrichts durchgeführt, in einer Doppelstunde pro Woche. Der Verein von Jonas Ermes schult die verantwortlichen Lehrerinnen und Lehrer und begleitet sie fortlaufend, auch mit Impulsabenden und Telefoncoachings. Ermes sagt: „Wir liefern außerdem Materialien und vorgefertigte Übungen für das gesamte Schuljahr.“ Das Curriculum des „Bunten Balls“ ist so konzipiert, dass auch fachfremde Lehrkräfte damit arbeiten können.

Digitalisierung, Inflation, Coronapandemie, Fluchtbewegungen: In den Schulen konzentrieren sich die gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit. Gerade in den vergangenen Jahren sind die Herausforderungen für Lehrerinnen und Lehrer noch einmal größer geworden. Beim Deutschen Schulbarometer 2024 gaben 47 Prozent der Lehrkräfte an, dass es an ihrer Schule Probleme mit physischer und psychischer Gewalt gibt. Die Belastungen, denen sich Familien ausgesetzt sehen, spiegeln sich im Verhalten der Kinder.

Dass man sich mehr auf die Entwicklung sozialer und emotionaler Kompetenzen konzentrieren müsse, davon ist Jonas Ermes überzeugt: „So kommen wir dahin, dass Kinder gegenseitig ihre Bedürfnisse sehen, anerkennen und gemeinsam Lösungen finden. Dann kann die eigentliche Arbeit an den Basiskompetenzen – Lesen, Schreiben und Rechnen – beginnen.“ Auch die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), ein Beratungsgremium der Kultusministerkonferenz, empfahl 2022 in einem Gutachten explizit die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen für Grundschülerinnen und Grundschüler. „Die Literatur zeigt, dass Präventionsprogramme die größte Wirkung entfalten, wenn sie im Kindergarten oder im Grundschulbereich stattfinden“, sagt Jonas Ermes. Zudem sei die Grundschule die einzige Institution, die jedes Kind in Deutschland erreiche. Daher wurde der „Bunte Ball“ bewusst für Grundschulen konzipiert.

Jede Unterrichtseinheit folgt einer Struktur und arbeitet mit wiederkehrenden Ritualen. Jonas Ermes erläutert: „Zur Begrüßung und Verabschiedung kommen wir immer zusammen in einem Kreis der Freundschaft, wo bestimmte Regeln gelten.“ Es soll ein Ort des Wohlfühlens sein, der Kindern Sicherheit vermittelt. Darauf folgt eine sogenannte Hauptteilübung, etwa ein Hindernisparcours, der gerahmt wird von einer sozial-emotionalen Übung: zum Beispiel eine Art Memoryspiel mit Emotionen, bei dem Karten aufgedeckt werden, auf denen bestimmte Gefühle erkennbar sind, etwa Trauer. In den Jahrgangsstufen eins und zwei wird diese Übung zur sogenannten Emotionsidentifikation zusätzlich in eine Fantasiewelt eingebettet. Die Kinder sind dabei Drachenreiterinnen und Drachenreiter und müssen die Gefühle von abgebildeten Drachen richtig erkennen, um auf ihnen reiten zu dürfen.

 

Das Programm lässt den Lehrerinnen und Lehrern Spielraum für eigene Akzente. Sportlehrer Patrik Werner beispielsweise spielt zu Unterrichtsbeginn meditative Musik und begrüßt jedes Kind einzeln: „Das ist ein Zeichen der Wertschätzung. Es sagt: ‚Ich habe dich gesehen, du bist mir wichtig.‘“ Namensgebend für den „Bunten Ball“ ist ein Ritual, das Werner besonders wertvoll findet. Die Kinder wählen aus einer Sammlung von bunten Bällen denjenigen, der die eigene Gefühlslage am besten ausdrückt. Gelb etwa steht für Freude, Grün für Angst. Werner lässt seine Zweitklässlerinnen und Zweitklässler daraufhin Fangen spielen und unterbricht das Spiel zwischendurch. „Jedes Kind sucht sich dann eine Partnerin oder einen Partner und tauscht sich dazu aus, wie es sich fühlt“, erklärt er. Die verschiedenfarbigen Bälle helfen dabei. Im ersten Schuljahr sei das noch ungewohnt gewesen, inzwischen selbstverständlich und „extrem wertvoll“.

Die Initiatoren von In safe hands e. V. überprüfen die Wirksamkeit des Programms im Rahmen einer Evaluationsstudie in Zusammenarbeit mit dem Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln und dem Lehrstuhl für Klinische Entwicklungspsychologie der Universität Paderborn. „Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Kinder, die mit uns arbeiten, ihre sozial-emotionale Kompetenz signifikant weiterentwickeln, und dass diese Erfolge auch bestehen bleiben“, berichtet Jonas Ermes. Im nächsten Schritt soll eine „Bunter Ball“-Klasse direkt mit einer Klasse, die nicht mit dem Programm arbeitet, als Kontrollgruppe verglichen werden. Denkbar wäre ja, dass die Entwicklung dieser Kompetenzen einfach mit dem natürlichen Reifeprozess einhergeht.

 

Patrik Werner beobachtet nach anderthalb Jahren Testlauf positive Auswirkungen der regelmäßigen Übungen: „Die Kinder in meiner zweiten Klasse können sich zu jedem Kind hinsetzen und mit ihm sprechen, ohne zu murren.“ In einer dritten Klasse, die er ohne das Programm unterrichtet, komme es häufig zu Problemen beim Teambuilding, sagt der Sportlehrer. „In meiner zweiten Klasse nicht – das ist ein riesiger Fortschritt.“ Bei einer pädagogischen Fortbildung hat Werner das Konzept kürzlich Kolleginnen und Kollegen von anderen Schulen vorgestellt und weiterempfohlen. Auch Nicole Olschewski, Schulleiterin an der Gerichtsschule Witten, ist mit den ersten Ergebnissen zufrieden: „Wir verfolgen verschiedene Ansätze, um unseren Schülerinnen und Schülern sozial-emotionale Kompetenzen zu vermitteln. Der ‚Bunte Ball‘ ist dabei ein sinnvoller Baustein.“

In safe hands e. V. arbeitet aktuell mit zwölf Grundschulen in Nordrhein-Westfalen und einer in Berlin zusammen. Der Verein plant im kommenden Schuljahr die Aufnahme von 15 weiteren Schulen.

Interessierte Schulen müssen keine besonderen Voraussetzungen erfüllen. Notwendig sind nur eine Turnhalle mit Standardgeräten sowie motivierte Lehrkräfte, die von ihrer Schulleitung für die einmalige, eintägige Schulung vor den Sommerferien oder zu Beginn des Schuljahres sowie für ein bis zwei Online-Reflexionsworkshops im Laufe des Schuljahres freigestellt werden. Ein finanzieller Eigenbeitrag wird unter Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten der Schule festgelegt.

Sie mögen diesen Artikel? Teilen Sie ihn gerne.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


… im Postfach

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit den besten Geschichten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Partnerschaftliche Elternarbeit

Auf Augenhöhe

Schulabsentismus

Zurück in die Schule

Materielle Armut

„Dann müssen wir es eben selbst machen!“

Schulsozialindex in NRW

„Nur wer hier wirklich einmal vor Ort war, kann sich ein Urteil erlauben“

Bitte beachte unsere Netiquette.

Auf SchuB möchten wir den fachlichen Austausch der Schulen im Brennpunkt untereinander fördern. Daher freuen wir uns sehr über Eure Meinung zu unseren Beiträgen. Für einen respektvollen und konstruktiven Austausch bitten wir Euch folgende Regeln zu beachten:
Wir danken Euch für Eurer Verständnis und Eure Mitwirkung und wünschen Euch viel Freude beim Kommentieren.

Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?

Bitte aktiviere JavaScript in deinem Browser, um dieses Formular fertigzustellen.
Wie sind Sie auf uns Aufmerksam geworden