„Anfangs ist es schwer, sich zurückzunehmen und nicht jedes Mal gleich zu intervenieren“, gibt Erwin Oberstraß zu.
Ein Gefühl füreinander entwickeln
An diesem Morgen spielen ein paar Jungs mit dem Ball. Einige Mädchen drehen ein Seil, andere balancieren bunte Plastikteller auf dünnen Stäben, woanders basteln Kinder auf einer Decke. Klassenlehrer Erwin Oberstraß beobachtet Einzelgängerinnen und Einzelgänger, kleinere und größere Gruppen und gibt Tipps, wenn Kinder ihn um Rat bitten. „Nessim nimmt mir dauernd die Spielsachen weg“, beschwert sich Bilal. Ein paar Meter entfernt spielt Nessim alleine vor sich hin, blickt etwas verloren zu den Klassenkameradinnen und -kameraden. Der Lehrer bittet Bilal, genau hinzusehen. „Was meinst du, warum er das macht? Du findest das heraus, du schaffst das“, sagt Oberstraß. Bilal überlegt kurz. „Dann frag ich ihn doch einfach, ob er mitspielen will!“, ruft er und flitzt los.
Es sind Szenen wie diese, die Oberstraß vom Projekt „DKidS“ überzeugen: Schüchterne, die plötzlich auf andere zugehen, Kinder, die andere in ihre Gemeinschaft aufnehmen oder einen Streit gewaltfrei beenden. „Anfangs ist es schwer, sich zurückzunehmen und nicht jedes Mal gleich zu intervenieren“, räumt der Lehrer ein. Aber die Kinder würden durch das freie Spiel lernen, sich selbst zu organisieren, fänden neue Wege, zu kommunizieren und Konflikte selbst zu regeln. „Ich muss nicht mehr ständig eingreifen und kann mich nach den zwei Wochen besser aufs Unterrichten konzentrieren.“
Ganz nebenbei entdeckt der Lehrer bei seinen Schützlingen manchmal ungeahnte Fähigkeiten. So bekam Oberstraß auf dem Sportplatz zufällig mit, dass sich ein albanischer Junge, der kaum ein Wort Deutsch spricht, fließend auf Englisch unterhalten kann. „Das hat mir nie jemand gesagt – und das wäre mir im normalen Unterricht auch nicht aufgefallen. Plötzlich ist die Kommunikation mit ihm ganz leicht“, erzählt der Lehrer, in dessen multikultureller Klasse das Smartphone mit Dolmetscherfunktion zur Standardausrüstung gehört.
Verzichten, um zu lernen
Insgesamt elf Solinger Grundschulen und zwei weiterführende Schulen haben sich auf das Experiment eingelassen, das Katrin Aydeniz vom Schulpsychologischen Dienst der Stadt Solingen mit ihrem Team konzipiert hat und fortlaufend weiterentwickelt. Der Grund, warum sie aktiv wurde: „Unterrichten wird immer schwieriger“, sagt Aydeniz. Schule sei darauf ausgelegt, in Gemeinschaft zu lernen. Die dafür nötige Aufmerksamkeit sei aber nur durch Verzicht auf alles andere möglich, was Kinder sonst noch so im Unterricht treiben: malen, singen, herumlaufen, reden oder die Nachbarin oder den Nachbarn ärgern. Diese Verzichtsleistung müssten Kinder erst lernen. Aydeniz ist überzeugt: Durch die Nutzung sozialer Medien befinden sich Kinder dauerhaft in einem hohen Erregungszustand. „Sie verlieren die Fähigkeit, Abwesendes zu denken und Gegenwärtiges wegdenken zu können“, sagt die Psychologin. Insgesamt seien die Kinder kaum noch in der Lage, zu lernen.
Hier setzt das Projekt „DKidS“ an. Das Ziel sei es, die Klasse zu einer Gemeinschaft zu formen, bevor es ans gemeinsame Lernen geht. „Das System Schule berücksichtigt nicht genügend, wie Gruppe funktioniert und welches Potenzial darin steckt“, begründet Aydeniz. An immer mehr Schulen werde mit verschiedensten Helferinnen und Helfern versucht, die Kinder durch Eins-zu-eins-Betreuung zum Lernen zu bringen. Dabei müssten diese vielmehr üben, in Gemeinschaft zu lernen – nach dem Motto: „Wir sind eine Klasse und machen das gemeinsam.“ Während die Kinder bei „DKidS“ also das Zusammenspiel in der Gruppe trainieren, lernen die Lehrkräfte die „teilnehmende Beobachtung“. Ihre Aufgabe sei es, mit Kindern auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen und sie zum eigenen Reflektieren zu bringen.