Soziales Lernen

Vor dem Lernen steht das Wir-Gefühl

Erst Sportplatz, dann Klassenraum: In Solingen stärken Kinder den Zusammenhalt. Und Lehrkräfte üben sich in „teilnehmender Beobachtung“. Danach lernt es sich besser.

Dribbeln, Pass, Schuss. Torhüter Rayan* hält den Ball, seine Kumpels jubeln. Der nächste Ball rollt gerade so ins Eck. „Das war kein Tor!“, ruft Rayan, was die anderen natürlich nicht so sehen. Die Jungen gestikulieren wild, einig werden sie sich nicht. „Wir haben über das Tor diskutiert, aber es war kein schlimmer Streit. Dann haben wir einfach weitergemacht“, erzählt Mert hinterher. Rayan, Mert und ihre Freundinnen und Freunde besuchen die „Elefanten­klasse“ der ­ Grundschule Katternberger Straße in Solingen. Das zweite Schuljahr hat begonnen. Doch statt zu lesen und Arbeitsblätter zu füllen, tobt die Klasse in den nächsten Tagen erst einmal auf dem Sportplatz herum.  Der ungewöhnliche Lernort ist Teil des Projekts „DKidS“ („Die Klasse ist der Star“), das der Schulpsycho­logische Dienst der Stadt Solingen im Jahr 2022 mit vielen Solinger Schulen entwickelt hat. Das Ziel: den Klassenzusammen­halt und damit jedes einzelne Kind zu stärken. Wie im Mannschaftssport, so die Idee, kann jede und jeder Einzelne nur ihr oder sein Bestes geben, wenn das Zusammenspiel im Team stimmt. Zuhören, aussprechen lassen, niemanden aus­schließen und Konflikte untereinander klären – das können die Schülerinnen und Schüler im freien Spiel üben. Die Lehrkräfte üben sich in teil­nehmender Beobachtung und helfen den Kindern dabei, sich selbst zu helfen.
Auf geht’s! Statt klassischem Unterricht geht’s zu Beginn des neuen Schuljahrs erst mal auf den benach­barten Sportplatz.

„Anfangs ist es schwer, sich zurückzunehmen und nicht jedes Mal gleich zu intervenieren“, gibt Erwin Oberstraß zu.

Ein Gefühl füreinander entwickeln

An diesem Morgen spielen ein paar Jungs mit dem Ball. Einige Mädchen drehen ein Seil, andere balancieren bunte Plastikteller auf dünnen Stäben, woanders basteln Kinder auf einer Decke. Klassenlehrer Erwin Oberstraß beobachtet Einzel­gängerinnen und Einzelgänger, kleinere und größere Gruppen und gibt Tipps, wenn Kinder ihn um Rat bitten. „Nessim nimmt mir dauernd die Spielsachen weg“, beschwert sich Bilal. Ein paar Meter entfernt spielt Nessim alleine vor sich hin, blickt etwas verloren zu den Klassenkameradinnen und -kameraden. Der Lehrer bittet Bilal, genau hinzusehen. „Was meinst du, warum er das macht? Du findest das heraus, du schaffst das“, sagt Oberstraß. Bilal überlegt kurz. „Dann frag ich ihn doch einfach, ob er mitspielen will!“, ruft er und flitzt los. 

Es sind Szenen wie diese, die Oberstraß vom Projekt „DKidS“ überzeugen: Schüchterne, die plötzlich auf andere zugehen, Kinder, die andere in ihre Gemeinschaft aufnehmen oder einen Streit gewaltfrei beenden. „Anfangs ist es schwer, sich zurückzunehmen und nicht jedes Mal gleich zu inter­venieren“, räumt der Lehrer ein. Aber die Kinder würden durch das freie Spiel lernen, sich selbst zu organisieren, fänden neue Wege, zu kommunizieren und Konflikte selbst zu regeln. „Ich muss nicht mehr ständig eingreifen und kann mich nach den zwei Wochen besser aufs Unterrichten konzentrieren.“ 

Ganz nebenbei entdeckt der Lehrer bei seinen Schützlingen manchmal ungeahnte Fähigkeiten. So bekam Oberstraß auf dem Sportplatz zufällig mit, dass sich ein alba­nischer Junge, der kaum ein Wort Deutsch spricht, fließend auf Englisch unterhalten kann. „Das hat mir nie jemand gesagt – und das wäre mir im normalen Unterricht auch nicht aufgefallen. Plötzlich ist die Kommunikation mit ihm ganz leicht“, erzählt der Lehrer, in dessen multikultureller Klasse das Smartphone mit Dolmetscher­funktion zur Standardausrüstung gehört.

Hier zählt das Wir: Nur wenn das Zusammen­spiel im Team stimmt, klappt’s auch mit dem Fußball – und später in der Klasse.
Erwin Oberstraß ist Klassenlehrer der „Elefantenklasse“. Hier gibt er letzte Anweisungen, bevor alle gemeinsam zum Sportplatz gehen.

Verzichten, um zu lernen

Insgesamt elf Solinger Grund­schulen und zwei weiterführende Schulen haben sich auf das Experiment eingelassen, das Katrin Aydeniz vom Schulpsycho­logischen Dienst der Stadt Solingen mit ihrem Team konzipiert hat und fortlaufend weiterentwickelt. Der Grund, warum sie aktiv wurde: „Unterrichten wird immer schwieriger“, sagt Aydeniz. Schule sei darauf ausgelegt, in Gemeinschaft zu lernen. Die dafür nötige Aufmerksamkeit sei aber nur durch Verzicht auf alles andere möglich, was Kinder sonst noch so im Unterricht treiben: malen, singen, herumlaufen, reden oder die Nachbarin oder den Nachbarn ärgern. Diese Verzichtsleistung müssten Kinder erst lernen. Aydeniz ist überzeugt: Durch die Nutzung sozialer Medien befinden sich Kinder dauerhaft in einem hohen Erregungszustand. „Sie verlieren die Fähigkeit, Abwesendes zu denken und Gegenwärtiges wegdenken zu können“, sagt die Psychologin. Insgesamt seien die Kinder kaum noch in der Lage, zu lernen. 

Hier setzt das Projekt „DKidS“ an. Das Ziel sei es, die Klasse zu einer Gemeinschaft zu formen, bevor es ans gemeinsame Lernen geht. „Das System Schule berücksichtigt nicht genügend, wie Gruppe funktioniert und welches Potenzial darin steckt“, begründet Aydeniz. An immer mehr Schulen werde mit verschiedensten Helferinnen und Helfern versucht, die Kinder durch Eins-zu-eins-Betreuung zum Lernen zu bringen. Dabei müssten diese vielmehr üben, in Gemeinschaft zu lernen – nach dem Motto: „Wir sind eine Klasse und machen das gemeinsam.“ Während die Kinder bei „DKidS“ also das Zusammenspiel in der Gruppe trainieren, lernen die Lehrkräfte die „teilnehmende Beobachtung“. Ihre Aufgabe sei es, mit Kindern auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen und sie zum eigenen Reflektieren zu bringen. 

Sportplatz statt Wald

Wie die einzelnen Schulen und Lehrkräfte das Projekt mit Leben füllen, bleibt ihnen überlassen. „Lehrkräfte orientieren sich stark an Konzepten, Regeln, Konsequenzen. Aber für dieses Projekt gibt es kein klares Konzept“, sagt Aydeniz, die die Schulen vor dem Projektstart ausführlich zu den Zielen von „DKidS“ brieft. Ursprünglich sollten die Schulklassen zwei Wochen im Wald verbringen. Doch das ist etwa an der innenstädtisch gelegenen Grundschule Katternberger Straße kaum praktikabel. Also weichen die Lehrerinnen und Lehrer auf umliegende Sportplätze, den Spielplatz oder ein nahe gelegenes Sportstudio aus. Ganz nebenbei lernen die Kinder auf dem Fußweg dorthin, ihre Umwelt wahr­zunehmen, auf den Verkehr zu achten und beim Gehen sprichwörtlich nicht aus der Reihe zu tanzen.  Lehrerin Jovana Mihaljevic, die neu an der Grundschule Katternberger Straße ist, zeigt sich schon nach der ersten Woche vom Unterrichtsstart an dem außerschulischen Lern­ort überzeugt. Denn zu ihrer Überraschung meistert die Elefantenklasse den Weg zum Sportplatz entlang viel befahrener Straßen unaufgeregt und routiniert. Wenn ein Kind vorprescht oder den Anschluss verliert, holen es die anderen in die Gruppe zurück. „Ich bin wirklich begeistert, wie geduldig die Kinder sind und wie gut sie in der Gruppe gehen. Das kenne ich von anderen Schulen ganz anders“, meint Mihaljevic. Das Konzept, dass die Klasse „Hand in Hand“ gemeinsam Verantwortung übernimmt, scheint bereits nach wenigen Tagen aufzugehen.  Am Ende jedes Schultages führen die Kinder ein Klassengespräch und reflektieren, was sie erlebt haben. Das Kollegium wiederum trifft sich nach jeder „DKidS“-Woche mit dem Schulpsychologischen Dienst zur Supervision. Dort können die Lehrkräfte loswerden, was sie beobachtet haben und wie sie mit den Erfahrungen umgehen. Regelmäßig einmal im Monat gibt es ein Reflexionsangebot. Oberstraß, der dabei seine Gedanken ordnet, nennt es „Kämmen fürs Gehirn“. „Ich wünschte, jedes Kollegium hätte diese Möglichkeit“, sagt er.

* Namen der Kinder geändert.

Decke ausbreiten, die Weite des Sportplatzes auf sich wirken lassen, den Tapetenwechsel gemeinsam genießen.
Den Schülerinnen und Schülern gefällt’s, dem Lehrer gefällt’s – und am Ende klappt der Unterricht auch besser.

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