Lesen ist eine Basiskompetenz, die in Hamburger Grundschulen seit zehn Jahren durch ein besonderes Programm gefördert wird. Nun wird das BiSS-Lesetraining – BiSS steht dabei für „Bildung durch Sprache und Schrift“ – auch in weiterführenden Schulen eingesetzt (17 Stadtteilschulen, ein Gymnasium), die sich in sozial herausfordernder Lage befinden. Seit Herbst 2023 testet die Schulbehörde der Hansestadt innerhalb des Programms „23+ Starke Schulen“, inwiefern auch Schülerinnen und Schüler der fünften und sechsten Klassen vom sogenannten Leseflüssigkeitstraining profitieren können. „Die Lesekompetenz war in diesen Jahrgangsstufen einfach nicht in dem Maß vorhanden, dass das Lernen insgesamt gut gelingen kann“, erklärt Lena Müller von der Hamburger Schulbehörde den Hintergrund des Pilotprojekts.
Besseres Lesen hilft auch in Mathe
Dabei geht es um mehr als um bessere Lesekompetenzen. In den Untersuchungen des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) zum Leseflüssigkeitstraining gibt es Hinweise, dass sich eine bessere Lesekompetenz positiv auf die Bereiche Rechtschreibung und Mathematik auswirkt. Für die gelernte Deutschlehrerin Lena Müller ist das wenig überraschend. „Wenn die Schülerinnen und Schüler nicht ausreichend gut verstehen, was sie lesen, dann können sie auch mathematische Textaufgaben nicht verstehen.“
Viele andere Bundesländer, darunter Bremen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, blicken längst nach Hamburg und adaptieren das Erfolgsprogramm. „Teilweise übernehmen sie unser Konzept eins zu eins“, so Vaccaro, der interessierte Landes- und Bezirksregierungen mit seinem Team berät. „Wir hatten vor einigen Monaten sogar Besuch aus Luxemburg“, erzählt er ein wenig stolz.
Erst hören, dann mitlesen
Was aber macht das Leseflüssigkeitstraining so erfolgreich? Im Zentrum stehen verschiedene Methoden, die eines gemeinsam haben: „Die Schülerin oder der Schüler bekommt einen Text laut und richtig ins Ohr und murmelt dann leise und möglicherweise stockend mit“, so Vaccaro. Beim „chorischen Lesen“ etwa liest die Lehrkraft laut vor, und alle stimmen ein. Beim Hörbuchlesen kommt die Stimme vom Band, und beim Tandemlesen liest eine Schülerin oder ein Schüler mit den besseren Lesekompetenzen, und die oder der Schwächere des Tandems murmelt leise mit.
Neben diesem Methodenmix wird das Leseflüssigkeitstraining nach den folgenden verbindlichen Standards umgesetzt:
- Regelmäßigkeit: Gelesen wird an mindestens vier, besser an fünf Tagen pro Woche für 20 Minuten.
- Verlässlichkeit: Das Training ist in einem „Leseband“ organisiert, das heißt, es findet immer zur gleichen Zeit (etwa zu Beginn der zweiten Stunde) statt.
- Verbindlichkeit: Die Schule muss sich als Ganzes zur Teilnahme verpflichten (Beschluss der Lehrerkonferenz) sowie eine Projektverantwortliche oder einen Projektverantwortlichen benennen, die oder der an Austauschtreffen teilnimmt.
- Vergleichbarkeit: Um den Effekt des Trainings messen zu können, sollten dieselben Methoden genutzt werden. Sie können und sollen aber nach Klassenstufe und Situation variiert werden. Auch die Auswahl der Texte steht den Lehrkräften frei.
- Wissenschaftlichkeit: Zweimal im Jahr werden jede Schülerin und jeder Schüler getestet.
- Finanzierbarkeit: Das Training lässt sich kostengünstig umsetzen, da es mit jedem Text funktioniert und – ohne aufwendige Fortbildungen – von allen Lehrkräften durchgeführt werden kann.
Viele Schulen machen freiwillig mit
Diese Erfolgsfaktoren sind zugleich die Teilnahmebedingungen, betont Vaccaro. Denn während besonders belastete Hamburger Grundschulen mit dem Sozialindex 1 bis 3 verpflichtend am BiSS-Lesetraining teilnehmen, können sich andere freiwillig melden. So wuchs die Zahl der teilnehmenden Schulen von ursprünglich sechs im Jahr 2014 auf zwei Drittel aller Grundschulen. Ein großer Teil ist also aus eigenem Antrieb dabei. Auch in der Sekundarstufe 1 soll es nicht bei den Schulen mit niedrigem Sozialindex bleiben. Lena Müller und Eric Vaccaro gehen davon aus, dass auch in den Stufen 5 und 6 mittelfristig zwei Drittel der Schulen das Leseflüssigkeitstraining nutzen werden. Die Ergebnisse der Pilotphase seien ermutigend, und die Möglichkeit zur Teilnahme stoße bereits auf großes Interesse.
Hier ist das C der Star: der Buchstabe der Woche als fester Bestandteil des Lesenlernens. © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
In den Hamburger Grundschulen kommt das Leseflüssigkeitstraining gut an. Jetzt soll es auf fünfte und sechste Klassen ausgerollt werden. © Wübben Stiftung Bildung/Kaja Grope
Alle sind für das Training mitverantwortlich
Neben den schnellen Lernerfolgen freuten sich die Lehrkräfte besonders über das Büchergeld der Schulbehörde, berichtet Lena Müller. Welche Texte sie für das Leseflüssigkeitstraining anschaffen, bleibt dabei ganz ihnen überlassen. Das können spannende Kinder- und Jugendliteraturwerke sein, Gedichte oder Sachbücher, die eher zu naturwissenschaftlichen Unterrichtsinhalten passen. Denn die Einrichtung einer verbindlichen Lesezeit führe dazu, dass das Leseflüssigkeitstraining nicht nur im Deutschunterricht zu Hause ist, so Müller. Genau das sei gewollt. „Das Fach, welches im Stundenplan in der Lesebandzeit liegt, investiert 20 Minuten seiner Unterrichtszeit als Lesezeit. Wenn ich also Mathematiklehrerin bin, dann wird 20 Minuten im Matheunterricht gelesen.“ Da am Ende alle Fächer von besseren Leseleistungen profitieren, sollen sich auch alle mitverantwortlich fühlen, betont sie.
Welchen Erfolg das Leseflüssigkeitstraining in der Sekundarstufe verzeichnen kann, wird das IfBQ künftig durch ein neues Testverfahren dokumentieren, verrät Vaccaro. Dieses definiert konkrete Referenzwerte für die einzelnen Klassenstufen und zeigt, wie nah ein Kind dem Ziel im Hamburg-Vergleich gekommen ist. Vaccaro: „Wir kämpfen in jeder Klassenstufe gegen Bildungsbenachteiligung.”