Startchancen-Programm

Mehr Hilfe für die einen bedeutet nicht Vernachlässigung der anderen

Der Fokus auf Schulen mit besonderen Bedarfen ist richtig. Von datengestützter Unterrichtsentwicklung könnten langfristig aber alle Schulformen profitieren.

Das Startchancen-Programm ist offiziell gestartet. 4.000 allgemein- und berufsbildende Schulen mit einem besonders hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schüler­innen und Schüler sollen in den nächsten zehn Jahren unter­stützt werden. Bund und Länder stellen dafür zusammen 20 Milliarden Euro zur Verfügung.

Schon heißt es aus verschiedenen Ecken, das Programm sei unfair. So bemängelt etwa die CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „Nur jeder elfte Schüler wird von dem Startchancen-Programm überhaupt profitieren. Das ist zu wenig.“ Der Deutsche Philologenverband kritisiert wiederum, dass nicht alle Schul­formen gleichermaßen berück­sichtigt würden: „In dieses Programm müssen die Gymnasien unbedingt einbezogen werden“, heißt es. Dabei ist für das Programm das Prinzip der Teilhabegerechtigkeit zentral, und Gymnasien zählen zunächst nicht zu den Schulformen, die einen besonders großen Unterstützungsbedarf anmelden.

Kinder an Schulen im Brennpunkt haben einen erhöhten Förderbedarf. Sie zuerst in den Blick zu nehmen, findet Markus Warnke richtig. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Katharina Werle
Schule – ein Ort, an dem die Kompetenzen und Fähigkeiten von jungen Menschen gefördert werden sollten, damit sie später am gesell­schaftlichen Leben teilhaben können. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Fokus auf Schulen mit hohem Bedarf ist richtig

Kinder und Jugendliche können nur dann an der Gesellschaft öko­nomisch, politisch, sozial oder kulturell teilhaben, wenn sie dazu die nötigen Kompetenzen und Fähigkeiten haben. Das Erreichen von Mindeststandards spielt dafür eine zentrale Rolle. Der IQB-Bildungstrend zeigt, welche Schülergruppen besonders be­troffen sind. Der Blick auf die Ver­teilung nach Schulformen macht deutlich, dass an Gymnasien wesentlich weniger Schülerinnen und Schüler lernen, die die fest­gelegten Mindest­standards in den Fächern Deutsch und Mathematik nicht erreichen. Die Konzentration auf jene Schulen, die hier einen besonders hohen Bedarf haben, ist also richtig. Die Gymnasien sind damit nicht per se ausgeschlossen. Maßgeblich ist nicht die Schulform, sondern sind die kumulierten Risikolagen von Schülerinnen und Schülern.

Im Startchancen-Programm geht es auch um Verteilungsgerechtigkeit. Erstmals gibt es deutschlandweit eine Abkehr vom Gießkannenprinzip: Ressourcen werden danach gesteuert, wo Bedarfe besonders hoch sind. Dafür haben die Länder die Schulen mit den höchsten Bedarfen anhand von Benach­teiligungskriterien ermittelt und Sozialindizes eingeführt. Ungleiches, so der dahinter­stehende und richtige Gedanke, soll ungleich behandelt werden. Gerade das ist gerecht und nicht eine Gleichheit, die Unterschiede ignoriert.

Die anderen Schulformen werden nicht vergessen

Zum ersten Mal bekommen mit dem Programm die Schulen eine erhöhte Aufmerksamkeit, die weit am Rande standen. Die Herausforderungen an diesen Schulen unterscheiden sich stark von jenen an den meisten anderen Schulen. Sie bei ihren Unterrichts­entwicklungsprozessen in besonderem Maße zu unter­stützen ist richtig und wichtig. Die Gymnasien standen und stehen schon seit jeher im Rampenlicht, die Schulen im Brennpunkt bisher im Schatten. Dieser Fokus bedeutet aber nicht, dass die anderen Schulformen künftig aus dem Blickfeld geraten.

Das Programm setzt also an der richtigen Stelle an. Wobei klar ist, dass es nicht reicht, um auf lange Sicht für wirklich alle Kinder und Jugendlichen faire Chancen zu bieten. Unser lang­fristiges Ziel sollte darin liegen, auf die Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen in allen Schulen adäquat reagieren zu können. Das Programm kann zum Labor und im besten Falle zum Katalysator für Veränderungen im ganzen Schul­system werden, von dem dann alle profitieren.

Erstmals bekommen mit dem Startchancen-Programm die Schulen eine erhöhte Aufmerksamkeit, die weit am Rande standen. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
„Wenn es uns gelingt, individuelle Lernverläufe verfolgen zu können, wäre das ein wichtiger Schritt hin zu einer gezielteren Unterstützung aller Kinder“, ist Warnke überzeugt. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Katharina Werle

Es braucht evidenzbasierte Unterrichts­konzepte und Lernmaterialien

So spielt die datengestützte Unter­richtsentwicklung eine zentrale Rolle. Wenn es uns gelingt, individuelle Lernverläufe verfolgen zu können, wäre das ein wichtiger Schritt hin zu einer gezielteren Unterstützung aller Kinder. Das wäre die notwendige Grundlage, um alle Kinder optimal zu fördern, nicht nur an den Startchancen-Schulen. Die Länder sind sich dessen bewusst, dass es mehr braucht als die drei Säulen des Programms, um die zentralen Kompe­tenzen von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Sie sind sich einig darüber, dass es evidenzbasierte Unterrichtskonzepte und Lern­materialien braucht, die erprobt werden (müssen).

Damit verbunden ist die weitere Qua­lifizierung von Lehrkräften. Es wird Fortbildungen geben, die zeitnah nicht nur den Start­chancen-, sondern allen Schulen geboten werden können. Am Ende werden es nicht die drei Säulen sein, an denen der Erfolg des Programms hängt. Alles darum herum ist ent­scheidender. Und von diesen Inno­vationen und Verbesser­ungen könnten sehr schnell auch viele weitere Schulen profitieren.

Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda

Dr. Markus Warnke ist seit 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung Bildung. Zuvor war er im Kinder- und Jugendministerium von Nordrhein-Westfalen sowie als Bundesgeschäftsführer beim Familienbund der Katholiken in Berlin tätig.

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