Schutzkonzepte für Schulen

„Alles, was Kinder und Jugendliche stärkt, dient der Prävention“

Wie können Schulen effektiven Kinderschutz betreiben? Schulsozialarbeiterin und Kinderschutzfachkraft Kirsten Heer über eine Verantwortung, die alle tragen.

Frau Heer, neben dem Erziehungs- und Bildungs­auftrag gehört auch der Schutzauftrag von Kindern und Jugendlichen zu den grund­legenden Pflichten von Lehr­kräften. Wie werden deutsche Schulen dieser wichtigen Aufgabe aktuell im Schulalltag gerecht?

Kirsten Heer: Wir alle sind einmal angetreten, um Kinder und Jugend­liche auf ihrem Weg gut zu begleiten. Unsere genuine Aufgabe war es schon immer, Schülerinnen und Schüler zu schützen und zu stärken. Das ist also nicht neu. Es ist aber schon deutlich spürbar, dass an den Schulen die Aus­einandersetzung mit dem Thema Kinderschutz im Allgemeinen und die Sensibilisierung für sexualisierte Gewalt zunehmen.

Woran liegt das?

Heer: Insgesamt lässt sich eine Zunahme von Gewalt nicht weg­diskutieren, und die kommt nun mal auch in den Schulen an. Die Augen davor zu verschließen würde bedeuten, die Verantwortung von sich zu weisen. Die mediale Berichterstattung und Aufklärung über sogenannte große Miss­brauchskomplexe der vergangenen Jahre schafften außerdem Aufmerk­samkeit. Darauf wurde auch strukturell reagiert, was unter anderem der 2023 von der Kultus­minister­konferenz verabschiedete Leitfaden „Kinderschutz in der Schule“ zur Entwicklung wirksamer Schutzkonzepte zeigt. Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass dadurch an Schulen automatisch wirksame Handlungs­maßnahmen ergriffen werden.

Sie sind auch als Referentin zum Thema aktiv. Wie erleben Sie den Wissensstand von Lehrkräften zu sexualisierter Gewalt?

Heer: Der Wissensstand ist sehr heterogen. In der Ausbildung von Lehrkräften ist der Themenkomplex Kinderschutz und sexualisierte Gewalt trotz des Schutzauftrages, den Lehrkräfte haben, leider weder verpflichtend noch strukturell verankert. Sich zu diesem Thema fortzubilden setzt Eigeninitiative voraus.

Bei welchen Anzeichen müssen Mitarbeitende an Schulen hellhörig werden?

Heer: Verlässliche Signale, die eindeutige Rückschlüsse darauf erlauben, dass ein Kind Opfer von sexualisierter Gewalt wurde, gibt es nicht. Manche Kinder somatisieren, bekommen also Bauch- oder Kopfschmerzen, entwickeln Schlaf- oder Essstörungen. Manche Kinder ziehen sich zurück, manche werden hyperaktiv. Andere können sich nicht mehr konzentrieren, verschlechtern sich in der Schule oder schaffen es gar nicht mehr dorthin. Wieder andere werden hingegen besonders leistungsstark in der Schule, um vermeintlich nicht aufzufallen. Wichtig ist, dass wir hinschauen, sobald sich ein Kind verändert. Es gilt, Interesse zu zeigen, verlässlich ansprechbar zu sein und von sich aus Gesprächsangebote zu machen. Denn manchmal steckt aus Erwachsenensicht etwas Harmloses hinter Verhaltensveränderungen, manchmal aber eben auch etwas sehr Ernstes.
Foto: © Wübben Stiftung BIldung/Lukas Schulze

Seit zehn Jahren ist Diplom-Pädagogin Kirsten Heer als Schulsozialarbeiterin an der Astrid Lindgren-Grundschule in Mülheim an der Ruhr tätig. Vor sieben Jahren machte sie die Zusatzquali­fikation zur Kinder­schutzfachkraft, seit drei Jahren ist sie Fachkraft für Prävention und Inter­vention sexualisierter Gewalt an Schulen.

„Kinder und Jugendliche müssen wissen, dass ihre Bedürfnisse Raum haben, dass ihre Meinung wichtig ist und sie Kritik – auch an Erwachsenen – äußern dürfen.“

„Ich will das nicht!“ Das so klar zu äußern fällt vielen Kindern und Jugendlichen nicht leicht. Sie müssen es erst noch lernen.
Kirsten Heer im Gesspräch: „Junge Menschen müssen Schule erleben als verlässlichen Ort, an dem sie gestärkt, gefördert und geschützt werden.“

Die Fallzahlen von Kindeswohl­gefährdung steigen seit Jahren. Statistisch gesehen sind in jeder Grundschulklasse ein bis zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen. Wie kann Schule als Institution effektiven Kinderschutz betreiben?

Heer: Erst einmal ist es wichtig, die Tatsache zu akzeptieren, dass Kinder und Jugendliche Gewalt erleben und sie auch ausüben. Gewalt und sexualisierte Gewalt sind keine Randerscheinungen. Sie passieren überall, unabhängig von gesellschaftlichen Schichten oder dem Standort einer Schule. Es ist unsere Ver­antwortung sowie unser gesetzlicher und ethischer Auftrag, hinzuschauen und gegebenenfalls zu handeln. Dafür gilt es, die Wahrnehmung zu schärfen und als Kollegium eine klare gemeinsame Haltung zu entwickeln.

Was ist der Kern dieser Haltung?

Heer: Es ist entscheidend, dass sich alle Mit­arbeiterinnen und Mit­arbeiter an Schulen als Teil einer Verantwortungs­gemeinschaft begreifen. Kinderschutz kann nur funktionieren, wenn alle hinschauen und die Verantwortung nicht an Einzelpersonen delegieren. Ein Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt muss als Grundlage ver­standen werden, um wirksam zu schützen und im Falle eines Falles Handlungssicherheit zu haben. Dieses Konzept darf nicht starr sein, sondern muss als gelebter Prozess verstanden werden. Nur dann kann es gelingen, die individuellen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen wirklich wahr- und ernst zu nehmen.

Welche Maßnahmen können hilfreich sein?

Heer: Alles, was Kinder und Jugendliche stärkt, dient der Prävention. Jede Form von Mit­bestimmung, sei es im Klassenrat oder der Schülerinnen- und Schüler­vertretung, ist hilfreich. Kinder und Jugendliche müssen wissen, dass ihre Bedürfnisse Raum haben, dass ihre Meinung wichtig ist und sie Kritik – auch an Erwachsenen – äußern dürfen. Sie müssen wissen, dass sie Gehör finden und Erwachsene für sie ansprechbar sind. Und das gilt auch oder eben besonders für so schwierige Themen wie Gewalterfahrung.

Was ist außerdem wichtig?

Heer: Junge Menschen müssen Schule erleben als verlässlichen Ort, an dem sie gestärkt, gefördert und geschützt werden. Damit Fachkräfte an Schulen das auch ernsthaft sicherstellen können, muss man sich auf ein Miteinander einigen, das von einer gemein­samen Haltung getragen wird. Das ist nicht immer leicht, aber das darf nicht davon abhalten. Da Wissen immer die Grundlage ist, gehören auch Fortbildungen zwingend dazu. All diese Dinge wie Prävention, Beteiligung von Schülerinnen und Schülern, Haltungs­arbeit und Fort­bildungen sind Bausteine des Schutz­konzeptes gegen (sexualisierte) Gewalt, welches verlässliche Strukturen verankert.

Noch nicht alle Schulen in Deutschland haben ein solches Konzept. Was sind die größten Herausforderungen?

Heer: Die Arbeitsbelastung ist sehr hoch. Was viele Lehrkräfte so formulieren: „Was soll ich denn noch alles machen? Ich bin nicht in der Sozialarbeit tätig, ich will unter­richten, komme dazu aber kaum noch.“ Dahinter stecken oftmals Frust und Unsicherheit. Beide Gefühle sind schlechte Ratgeber, wenn es darum geht, im Falle einer Kindeswohl­gefährdung handlungs­fähig zu sein. Ein Schutzkonzept kann langfristig entlasten.

Welchen ersten Schritt kann jede Schule direkt machen, hin zu einer Konzeptentwicklung?

Heer: Ein Anfang könnte etwa die kostenfreie Online-Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ für Lehrkräfte sein, die in Form eines interaktiven Computerspiels Zahlen und Fakten zu sexualisierter Gewalt, Täter­dynamiken und Handlungs­strategien im Verdachtsfall vermittelt. Da die Arbeit am Schutzkonzept nicht in jedem Schritt vom Gesamtkollegium geleistet wird, gilt es, eine Steuer­gruppe zu gründen. Diese Gruppe initiiert die jeweils nächsten Schritte im Prozess der Entwicklung und behält im Blick, wie und wann das Gesamtteam, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern einbezogen werden. Schließlich muss das Schutz­konzept von der gesamten Schul­gemeinschaft getragen und gelebt werden.

Ein Schutzkonzept zu erarbeiten ist für Schulen ein essenzieller Baustein für mehr Sicherheit – ein Rettungsreifen, wie hier auf dem Bild dargestellt.
Verschiedene Instrumente kommen in den Gesprächen zum Einsatz, um den Kindern zu ermöglichen, ihre Gefühlswelt auszudrücken.

Als Mitglied eines kommunalen Arbeitskreises in Mülheim an der Ruhr entwickelten Sie mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Schulumfeld pädagogische Fach­tage zu sexualisierter Gewalt und Schutzkonzepten. Worum ging es da?

Heer: Als klar war, dass alle Schulen in NRW verpflichtet sind, ein Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt zu ent­wickeln, wollten wir die Aktivitäten in Mülheim an der Ruhr bündeln. Gemeinsam mit der Schulaufsicht, verschiedenen Schulleitungen und Schulsozial­arbeiterinnen, Fachkräften aus dem Bildungsbüro und Mitarbeiter­innen der regionalen Schulberatungs­stelle konzipierten wir Fachtage für alle Mülheimer Grund-, Förder- und Hauptschulen. Den Auftakt an diesen pädagogischen Ganztagen bildeten Vorträge mit Basiswissen zu sexuali­sierter Gewalt und den Bausteinen des Schutzkonzepts. Im zweiten Teil konnten dann die Kollegien anhand von Arbeits­aufträgen an ihren Standorten direkt mit der Umsetzung beginnen. Da diese Arbeit so erfolgreich war, konnten wir dieses Konzept nun auch auf die weiterführenden Schulen übertragen. Insgesamt ist das also ein starkes Zeichen der Mülheimer Schulen, sich gemeinsam für den Schutz von Kindern und Jugendlichen einzusetzen.

Was wünschen Sie sich für den Kinderschutz in Deutschland?

Heer: Wir brauchen mehr niedrig­schwellige Beratungs­angebote, Therapieplätze und Fachkräfte in Schulen. Kinder und Jugendliche müssen ernst genommen und gehört werden – in Politik und Gesellschaft. Wären Kinder­rechte nicht nur eine ratifizierte Kon­vention, sondern Gesetz, würde das den Kinderschutz in Deutschland erheblich stärken.

Weitere Informationen zu Entwicklung und Bestand­teilen des Schutzkonzepts finden Sie hier:

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