Frau Heer, neben dem Erziehungs- und Bildungsauftrag gehört auch der Schutzauftrag von Kindern und Jugendlichen zu den grundlegenden Pflichten von Lehrkräften. Wie werden deutsche Schulen dieser wichtigen Aufgabe aktuell im Schulalltag gerecht?
Woran liegt das?
Heer: Insgesamt lässt sich eine Zunahme von Gewalt nicht wegdiskutieren, und die kommt nun mal auch in den Schulen an. Die Augen davor zu verschließen würde bedeuten, die Verantwortung von sich zu weisen. Die mediale Berichterstattung und Aufklärung über sogenannte große Missbrauchskomplexe der vergangenen Jahre schafften außerdem Aufmerksamkeit. Darauf wurde auch strukturell reagiert, was unter anderem der 2023 von der Kultusministerkonferenz verabschiedete Leitfaden „Kinderschutz in der Schule“ zur Entwicklung wirksamer Schutzkonzepte zeigt. Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass dadurch an Schulen automatisch wirksame Handlungsmaßnahmen ergriffen werden.
Sie sind auch als Referentin zum Thema aktiv. Wie erleben Sie den Wissensstand von Lehrkräften zu sexualisierter Gewalt?
Heer: Der Wissensstand ist sehr heterogen. In der Ausbildung von Lehrkräften ist der Themenkomplex Kinderschutz und sexualisierte Gewalt trotz des Schutzauftrages, den Lehrkräfte haben, leider weder verpflichtend noch strukturell verankert. Sich zu diesem Thema fortzubilden setzt Eigeninitiative voraus.
Bei welchen Anzeichen müssen Mitarbeitende an Schulen hellhörig werden?
Seit zehn Jahren ist Diplom-Pädagogin Kirsten Heer als Schulsozialarbeiterin an der Astrid Lindgren-Grundschule in Mülheim an der Ruhr tätig. Vor sieben Jahren machte sie die Zusatzqualifikation zur Kinderschutzfachkraft, seit drei Jahren ist sie Fachkraft für Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt an Schulen.
„Kinder und Jugendliche müssen wissen, dass ihre Bedürfnisse Raum haben, dass ihre Meinung wichtig ist und sie Kritik – auch an Erwachsenen – äußern dürfen.“
Kirsten Heer, Schulsozialarbeiterin an der Astrid Lindgren-Grundschule in Mülheim an der Ruhr
Die Fallzahlen von Kindeswohlgefährdung steigen seit Jahren. Statistisch gesehen sind in jeder Grundschulklasse ein bis zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen. Wie kann Schule als Institution effektiven Kinderschutz betreiben?
Was ist der Kern dieser Haltung?
Welche Maßnahmen können hilfreich sein?
Was ist außerdem wichtig?
Noch nicht alle Schulen in Deutschland haben ein solches Konzept. Was sind die größten Herausforderungen?
Welchen ersten Schritt kann jede Schule direkt machen, hin zu einer Konzeptentwicklung?
Heer: Ein Anfang könnte etwa die kostenfreie Online-Fortbildung „Was ist los mit Jaron?“ für Lehrkräfte sein, die in Form eines interaktiven Computerspiels Zahlen und Fakten zu sexualisierter Gewalt, Täterdynamiken und Handlungsstrategien im Verdachtsfall vermittelt. Da die Arbeit am Schutzkonzept nicht in jedem Schritt vom Gesamtkollegium geleistet wird, gilt es, eine Steuergruppe zu gründen. Diese Gruppe initiiert die jeweils nächsten Schritte im Prozess der Entwicklung und behält im Blick, wie und wann das Gesamtteam, Schülerinnen und Schüler sowie Eltern einbezogen werden. Schließlich muss das Schutzkonzept von der gesamten Schulgemeinschaft getragen und gelebt werden.
Als Mitglied eines kommunalen Arbeitskreises in Mülheim an der Ruhr entwickelten Sie mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Schulumfeld pädagogische Fachtage zu sexualisierter Gewalt und Schutzkonzepten. Worum ging es da?
Was wünschen Sie sich für den Kinderschutz in Deutschland?
Weitere Informationen zu Entwicklung und Bestandteilen des Schutzkonzepts finden Sie hier: