Im Gespräch

„Es kann doch nicht sein, dass Datenschutz wichtiger ist als unsere Kinder”

Marode Schulen, fehlende Plätze, Schüler, die Mindeststandards nicht erfüllen. Die Bilanz des Schuljahres 2023/24 könnte kaum schlimmer ausfallen. Bildungsexperte Markus Warnke erklärt, was besser gemacht werden könnte – und warum das nicht passiert.

Herr Warnke, das Schuljahr endet mit einer katastrophalen Zahlenbilanz. Allein in Berlin fehlen 27.000 Schulplätze, mindestens 700 Stellen für Lehrkräfte sind unbesetzt, jede siebte Unterrichtsstunde fällt mittlerweile aus. Dazu kommt der Gebäudeverfall. Gibt es eine wichtige Statistik, die wir vergessen haben?

Markus Warnke: Das fatalste Ergebnis für mich – und ich blicke ja nicht nur nach Berlin – ist, dass immer mehr Schüler und Schülerinnen in Deutschland die Mindeststandards nicht erreichen. 32,5 Prozent der Neuntklässler können nicht richtig lesen. 24,1 Prozent scheitern beim Leseverstehen in Englisch. Bei den Viertklässlern kann ein Viertel nicht altersgemäß rechnen. Das unterschreitet den minimalsten Anspruch an Bildung, den wir haben könnten. Ich kenne in der Bildungsszene niemanden, den das kaltlässt. Das treibt auch die Ministerien um.

Sind Berlin, Bremen oder Nordrhein-Westfalen nur die Brenngläser der Republik, in denen sich allgemeine Missstände deutlicher zeigen?

Warnke: Es fällt auf, dass gerade die Länder besonders schlecht abschneiden, in denen besonders viele Kinder von Sozialhilfe leben, was häufig mit dem Zuzug aus anderen Ländern zusammenhängt. Unsere Stiftung konzentriert sich auf die Schulen, an denen viele solcher Kinder sind. Die Ausgangslage ist dabei bundesweit vergleichbar, allerdings haben sich bis vor kurzem einige Bundesländer geweigert, die unterschiedlichen Herausforderungen anzuerkennen. Das hat sich mit dem Startchancen-Programm geändert. Damit die Fördersumme von insgesamt 20 Milliarden Euro tatsächlich an die am meisten benachteiligten Schüler und Schülerinnen geht, mussten alle Bundesländer für ihre Schulen Sozialindizes erstellen. Dabei kam heraus, dass es auch in Bayern, Sachsen oder Sachsen-Anhalt enorme Ungleichheiten zwischen den Schulen gibt, was bisher Bundesländer waren, die solche Unterschiede nicht dokumentieren wollten.

Gibt es Bundesländer, in denen durch gute Bildungspolitik Erfolge erzielt werden?

Warnke: In allen Vergleichen zwischen den Bundesländern fällt auf, dass sich in Hamburg über die Jahre vieles verbessert hat – bei ähnlicher Ausgangslage wie in der Hauptstadt. Berlin würde ich deshalb empfehlen, viel stärker nach Hamburg zu schauen. Dort läuft vieles sehr viel besser.

Was denn zum Beispiel?

Warnke: Das Wichtigste ist, dass Ties Rabe (SPD), der die letzten zwölf Jahre dort Schulsenator war, konsequent Daten erhoben hat. So hat er für jeden Jahrgang in wichtigen Fächern wie Mathematik und Deutsch den Kenntnisstand erhoben. In ganz Deutschland werden in den Klassen 3 und 8 die sogenannten VERA-Vergleichsarbeiten geschrieben. Dieses Konzept hat Hamburg auf alle Jahrgänge übertragen. So konnten sie viel besser analysieren, was die Schülerinnen und Schüler gelernt haben und welche Konzepte funktionieren. So konnten außerdem zielgenau die Ressourcen verteilt und gesteuert werden. Es gibt dort das Förderkonzept „Mathe sicher können“, das sich an Grundschüler mit Wissenslücken richtet, oder das „Leseband“, das sicherstellt, dass Grundschüler 20 Minuten am Tag lesen. Jedes Kind muss verpflichtend eine Vorschule besuchen. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass in Berlin die Bezirke als Schulträger funktionieren und alle ein gewisses Eigenleben führen. In Hamburg wird alles aus einer Hand gesteuert. Da ist die Schulbehörde nicht nur für die Lehrkräfte und den Unterricht verantwortlich, sondern auch für die Ausstattung, etwa mit digitalen Geräten. Das alles kostet nicht unbedingt viel Geld, die Ressourcen sind sowieso vorhanden, sie müssen nur effizienter genutzt werden.
Foto: © Peter Gwiazda

Markus Warnke, 52,
ist seit 2013 Geschäftsführer der Wübben Stiftung
Bildung in Düsseldorf.
Die Wübben Stiftung
verfolgt das Ziel, den
Bildungsstandort
Deutschland zu stärken, und setzt sich insbesondere für
benachteiligte Schülerinnen und Schüler ein. Warnke ist
studierter Jurist und
arbeitete zuvor im
nordrhein-westfälischen Familienministerium sowie als Bundesgeschäftsführer
beim Familienbund
der Katholiken.

Schule ohne Lehrkräfte? Warnke rät dazu, dem Thema der Personalentwicklung einen größeren Stellenwert beizumessen.

Die meisten Probleme, wie massiver Unterrichtsausfall, hängen mit dem Lehrermangel zusammen. Was wäre Ihr Rezept dagegen?​

Warnke: Das Allheilmittel habe ich natürlich nicht. Aber insgesamt müsste das Thema der Personal­entwicklung einen größeren Stellenwert haben. So könnte man den Job durch Coachings und gezieltere Fortbildungen oder eine Zusammenarbeit mit Universitäten attraktiver machen. Außerdem werden Quereinsteiger zu oft ins kalte Wasser geworfen. Ich verstehe, dass die Not groß ist, aber wenn man Anfänger vom ersten Tag alleine eine Klasse unterrichten lässt, brennen sie schnell aus. Hier müsste man bundesweit vergleichen, welche Konzepte sich am besten bewährt haben. Thüringen bietet seit Neuestem ein duales Lehramtsstudium mit ganz vielen Praxisanteilen und einer Vergütung an. Hier ist die Nachfrage weit höher als das Angebot. Um die Lehrkräfte zu entlasten, braucht es auch mehr multiprofessionelle Teams, darunter Psychologen, Sozialarbeiter und anderes pädagogisches Personal. Die Unterrichtvorbereitung könnte wie in Kanada auch viel besser in Teams organisiert werden.

Sie haben im Herbst 2023 mit mehreren Bildungspolitikern Kanada besucht, das eines der fortschrittlichsten Schul­systeme besitzt. Was hat sie dort am meisten begeistert?

Warnke: Kanada ist seit jeher ein Einwanderungsland und diese Haltung, dass jedes Kind unterschiedlich ist und das System jedem Kind gerecht werden muss, die ist dort ganz tief verankert. Das fehlt mir in Deutschland. Schule ist hier nach wie vor auf Homogenität ausgerichtet. Wir haben aber zunehmend heterogene Schüler­schaften. In Kanada arbeiten die Schulen viel enger mit der Wissenschaft zusammen, regelmäßig werden neue Lern­konzepte integriert. Innerhalb der Klassen werden die Kinder in verschiedene Lerngruppen aufgeteilt und jedes Kind wird ganz individuell gefördert. Was ich von dort sofort übernehmen würde, ist die datengestützte Unterrichts­entwicklung. Die Schulen können dort individuelle Lernverläufe sehr gut nachvollziehen. Dort weiß jede Schule, wie gut jeder einzelne Schüler gerade in Mathe oder Physik ist und in welchen Bereichen er sich noch verbessern muss. Da müssen wir in Deutschland auch hin.

Wie funktioniert das in Kanada?

Warnke: Jedes Kind besitzt dort eine Schüler-Identifikationsnummer. Zweimal im Jahr werden in allen Fächern digital sehr kurzweilige Kompetenztests gemacht. Sie müssen dann beispielsweise im Fach Mathe eine Handvoll Aufgaben lösen. Danach weiß die Lehrkraft sofort: Der eine hat Probleme mit dem Zahlenraum, der andere kann noch nicht richtig addieren. Dann wird genau geschaut, durch welche Förderung jeder einzelne sich verbessern kann. Jede Schule weiß dadurch auch, wie genau der Wissensstand einer ganzen Klasse ist. Gefragt wird auch regelmäßig nach dem emotionalen Wohl­befinden. Wenn es in einer Klasse Probleme gibt, wird sofort ein Sozialarbeiter oder Psychologe dorthin geschickt.

„In Deutschland passiert es aber allzu oft, dass ein Kind lange Zeit nur etwas auswendig lernt, und Jahre später auffliegt, dass ihm wichtige Grundlagen fehlen.“

In Deutschland würde solch ein Vorhaben vermutlich am Datenschutz scheitern?

Warnke: Dieses Argument wird immer wieder genannt. In Kanada werden die Daten aber auch geschützt, der Name der Person hinter der ID ist ja nicht für alle sichtbar. Es kann doch nicht sein, dass der Schutz von Daten wichtiger ist als das gelingende Aufwachsen unserer Kinder. Diese Daten braucht es unbedingt, um individuell hinschauen zu können, was jedes einzelne Kind benötigt. Das ist nicht nur wichtig, um den Abgehängten zu helfen, hier geht es auch um die Förderung von Hochbegabten. Schleswig-Holstein plant bereits eine solche Schüler-ID einzuführen. Dem Bildungs­ministerium ist dabei aufgefallen, dass jedes Kind mit der Steuer-ID, die es mit der Geburt zugeschickt bekommt, schon solch eine Nummer besitzt. Der Aufwand ist also viel geringer als gedacht.

Durch die Schulnoten erfährt jedes Kind doch auch, wo es ungefähr steht.

Warnke: Schulnoten beruhen sehr stark auf der persönlichen Einschätzung einer Lehrkraft. Sie zeigen, ob ein Kind fleißig war oder das, was im vergangenen Unterricht drangekommen ist, gut wiedergeben kann. Das sind alles anerkennens­werte Leistungen. In Deutschland passiert es aber allzu oft, dass ein Kind lange Zeit nur etwas auswendig lernt, und Jahre später auffliegt, dass ihm wichtige Grundlagen fehlen. Eine tatsächliche Abfrage des Leistungsstandes erfolgt in Deutschland nur über die erwähnten VERA-Vergleichsarbeiten oder die IQB-Tests.
Sicher in Deutsch und Mathe? Zu viele Schülerinnen und Schüler erreichen die Mindeststandards nicht. Umso wichtiger ist es Warnke zufolge, auf die Grundlagen zu schauen.

Das Institut zur Qualitätsent­wicklung im Bildungswesen (IQB) ermittelt bundesweit alle fünf Jahre für einzelne Jahrgänge, ob die Schüler und Schülerinnen die von der Kultusministerkonferenz vorgegebenen Bildungsstandards erreichen. Diese Daten sind danach nicht weiter zugänglich?

Warnke: Nein, selbst Hamburg kann nur sagen, wo eine Klasse steht, aber nicht, wo mögliche Lücken des Einzelnen sind. Das Interessante ist, dass diese Lernverlauf-Daten in Kanada gar nicht – so wie Noten in Deutschland – als Sanktions­instrument wahrgenommen werden. Alle Bildungsexperten, mit denen wir gesprochen haben, haben betont, dass sie eine enorme Verant­wortung für jedes einzelne Kind spüren und dieses beim Lernen bestmöglich unterstützen wollen. Was uns in Deutschland fehlt, ist ein Mindset-Wandel. Mehr Schülerdaten helfen uns, die Ressourcen besser zu verteilen. Wer braucht eine Rechtschreib­förderung, wer muss Lernlücken in Mathe schließen? In Deutschland gibt es von der Kinder- und Jugendhilfe bis zum Sozial­psychologischen Dienst so viele Angebote, sie arbeiten oft nur alle aneinander vorbei.
Abschaffung des Bildungsförderlismus? Dazu rät Warnke nicht, aber plädiert dafür, den Wettbewerb zu nutzen.

Das alles löst aber nicht das Problem, dass es zu wenig Schulplätze gibt. Ist es denn in so einer desolaten Lage überhaupt machbar, zusätzlich die vielen Flüchtlingskinder zu integrieren?

Warnke: Ich habe enorm viel Respekt vor allen Lehrkräften und Schulleitungen, welche Integrationsleistungen da bereits in den letzten Jahren vollbracht wurden. Das hat verhältnismäßig geräuschlos funktioniert, obwohl das Schulsystem alleine in Nordrhein-Westfalen seit dem Krieg in der Ukraine nochmals 100.000 Schüler und Schülerinnen aufgenommen hat. Aber es lässt sich auch nicht alles schönreden. Der Platzmangel ist ein bekanntes Problem. Wenn in einer Grundschule im Ruhrgebiet 33 Schüler und Schülerinnen pro Klasse sitzen, ist das einfach zu viel. Da wird es schwer, einzelne Kinder zu fördern und ihnen die Sprache beizu­bringen.

Mit dem Startchancen-Programm sollen insgesamt 20 Milliarden Euro deutschland­weit an die Schulen gehen, die am schlechtesten dastehen. Sehen Sie das Geld gut investiert?

Warnke: Das Positive im Vergleich zu anderen Fördermaßnahmen ist, dass das Programm klare und messbare Ziele formuliert. Es geht darum, die Schülerzahl, die derzeit die Mindeststandards bei den Lern- und Entwicklungszielen verfehlt, zu halbieren. In Deutsch, Mathe und im sozial-emotionalen Bereich. Unsere Stiftung hat dazu Beratungen in 13 Bundesländern durchgeführt. Wir hatten den Eindruck, nahezu alle arbeiten hart dran, daraus ein richtig gutes Programm für die Schulen zu machen. Wichtig wird dabei sein: Die richtigen Unterrichtskonzepte einzusetzen sowie notwendige Fortbildungs­formate für die Lehrkräfte – und es geht auch darum, die Schulen besser miteinander zu vernetzen.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn solche Maßnahmen direkt aus einer Hand von einem Bundesministerium gesteuert werden würden? Würden Sie den Föderalismus abschaffen?

Warnke: Bei den Verhandlungen zu dem Startchancen-Programm ist mir klar geworden, dass es sicherlich nicht besser wäre, 44.000 Schulen in ganz Deutschland von einem Feldherrenhügel aus Berlin zu steuern. Ich finde jedoch, wenn wir den Föderalismus schon haben, dann müssen wir den Wettbewerb, den er uns bietet, auch nutzen. Aber wer übernimmt denn bitte die besten Ideen aus anderen Bundesländern? Warum werden erfolgreiche Unterrichtskonzepte, innovative Ausbildungsformate für Lehrkräfte, der richtige Einsatz neuer Techniken wie der KI nicht kopiert? Warum haben alle verschiedene Datenschutz­konzepte? Hilfreich wäre es, wenn die Qualitätsstandards wirklich auf Bundesebene verbindlich festgelegt werden. Wieso kann es zum Beispiel sein, dass Nieder­sachsen einfach bei den VERA-Vergleichsarbeiten nicht mehr mitmacht? Kurz, warum macht am Ende doch jeder einfach alles so, wie er gerade will? Die dramatischen Ergebnisse bei den Lernzielen zeigen, dass es nicht so weitergehen kann.

 

Dieser Beitrag ist exklusiv im Tagesspiegel am 17. Juli 2024 erschienen.

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