Bildungs- und Hilfsangebote

Leben lernen

Die „Villa Kunterbunt“ fängt Kinder und Jugendliche auf, die in keiner regulären Schulklasse klarkommen. Ein Besuch in der Remscheider Idylle.

Am Waldrand, zwischen Wiesen und Feuchtbiotop, umsäumt von einem Bauerngarten mit Hühnerstall und Insektenhotel, liegt die „Villa Kunterbunt“. Ein schmales Sträßchen führt hinauf zu dem alten, schiefergedeckten Schulgebäude im idyllischen Remscheider Ortsteil Grund. Von hier schweift der Blick weit über die Stadt, die seit dem Niedergang der Metall- und Eisenindustrie als strukturschwach gilt. Von den Problemen vieler Menschen da unten im Tal, von Armut und Perspektivlosigkeit, scheint man Lichtjahre entfernt. Und doch bringen die Kinder und Jugendlichen, die jeden Morgen mit einem kleinen Schulbus abgeholt werden, eine ganze Menge davon mit hier herauf.
Christian Knies, Leiter der Heinrich-Neumann-Schule, in seinem Büro in der Villa Kunterbunt: „Wir zeigen den Jugendlichen, dass Schule cool ist, auf jeden Fall aber besser, als draußen abzuhängen.“
Unter einer offiziellen Adresse sucht man die Villa Kunterbunt vergeblich. Christian Knies, Leiter der Heinrich-Neumann-Förderschule mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung, hat dem Haus – in dem die Natur-Schule Grund beheimatet ist – diesen Namen gegeben. Das ist eine städtische Umwelt­bildungsstation, in der Kinder aus Remscheid gemeinsam mit Umweltpädagoginnen und -pädagogen die Natur entdecken. Villa Kunterbunt – das hat genauso mit dem bunt gemischten Team aus Lehrerinnen, Erziehern und Sozialarbeiterinnen zu tun wie mit der Vielfalt an Bildungs- und Hilfsangeboten, die sich hinter den alten Mauern vereinen. „Leben lernen e. V.“ steht auf dem Briefkasten neben der knarrenden Eingangstür, außerdem „IGEL-Gruppe“, „Umweltwerkstatt“ und „Natur-Schule Grund“.

Nach Schule sieht es hier nicht aus

Ausgestopfte Vögel und Nagetiere im Eingangsflur weisen den Besucherinnen und Besuchern den Weg ins Haus. Dutzende Backbleche türmen sich im Seminarraum aufeinander, erst tags zuvor war eine Schulklasse hier zum winterlichen Brötchenbacken. Im Sommer geht es raus in Wald und Garten, Tiere, Pilze oder Insekten erkunden. Auf der anderen Seite des Flures, im Klassenraum mit dem digitalen Whiteboard, stand eben noch Mathe auf dem Stundenplan. Jetzt haben die beiden Jungs und das Mädchen Pause, und der 14-jährige Adam (Hinweis der Redaktion: Namen der Kinder geändert) beweist seinem Betreuer Axel Schmidt, dass er auf den Händen laufen kann. Schmidt, von Beruf Schreinermeister und nach einer Weiterbildung jetzt heilpädagogischer Mitarbeiter, schafft zumindest einen respektablen Handstand. Nach Schule sieht das hier nicht aus, und das soll es wohl auch nicht. Die Jugendlichen besuchen die Umweltwerkstatt, ein Projekt für Jugendliche, die regelmäßig unentschuldigt im Unterricht fehlen.

Ausgestopfte Tiere zeigen: In der Villa Kunterbunt ist die Natur-Schule Grund beheimatet – eine städtische Umwelt­bildungs­station.
Ob Mathe oder Auszeit: Das digitale Whiteboard bietet verschiedene Nutzungs­möglichkeiten. Hier zeigen zwei Jungs, dass man darauf auch malen kann.
Christian Knies im Gespräch mit einem Schüler: „Das Wichtigste sind Beziehungen. Sie brauchen eine Person, an die sie anknüpfen können“, sagt der engagierte Schulleiter.
Seit 2001 fängt die Umweltwerkstatt Jugendliche ab der achten Klasse auf, die den Schulbesuch verweigern. Die Gründe, warum die Mädchen und Jungen von ver­schiedenen Rem­scheider Schulen hier landen, reichen von Problemen mit Eltern, Lehrern oder Mitschülerinnen über Versagensängste bis hin zu Sprachproblemen. „Wir zeigen den Jugendlichen, dass Schule cool ist, auf jeden Fall aber besser, als draußen abzuhängen“, sagt Knies, der streng genommen gar nicht für die Umwelt­werkstatt zuständig ist. Denn die wird vom Jugendhilfeverein „Leben lernen“ und den allgemeinen Schulen getragen. Diese stellen die Lehrkräfte, eine Leitung gibt es nicht. Trotzdem gilt Knies als Ansprechpartner.
Hund mit Anziehungskraft: Die Schülerinnen und Schüler kommen auch wegen Paula gerne in die Villa Kunterbunt.

Unterricht, der interessant bleibt

Den Jugendlichen sind diese organisa­torischen Details egal. Sie erfahren hier Sinn, eine wertschätzende Behandlung und Zuspruch – und wenn es nur der flauschige Schulhund Paula ist, der sie jeden Morgen dazu bewegt, wieder in der Umweltwerkstatt auf­zu­tauchen. Aber auch der praxisorientierte Unterricht liegt manch einem mehr als die Arbeit mit Heft und Stift. Nach der Pause steht Werken auf dem Plan. Die drei Jugend­lichen bauen ein „Vier gewinnt“-Spiel aus Holz. Das haben sie sich selbst ausgedacht. „Wir orientieren uns an den Ideen der Schüler­innen und Schüler, damit der Unterricht interessant bleibt“, erklärt Schmidt und nickt Adam aufmunternd zu, der gerade sorgfältig ein Stück Holz abschleift. „Ich mag es, mit den Händen zu arbeiten“, sagt der Junge.

Vor allem die Bindung an Menschen motiviert die Jugendlichen, weiterzumachen. „Das Wichtigste sind Beziehungen. Sie brauchen eine Person, an die sie anknüpfen können“, sagt Knies. Für die sind viele Jugendliche dann auch bereit, über ihren Schatten zu springen, pünktlich zu sein oder auch mal einen raueren Ton zu akzeptieren. Das sei wichtig für die berufliche Zukunft, sagt Knies. Perspektiven eröffnen sich für die Jugendlichen zum Beispiel als Helferinnen und Helfer bei Dachdecker­betrieben. Die suchen Leute, die zupacken können – ob mit oder ohne Schulabschluss.

„Das Wichtigste sind Beziehungen. Sie brauchen eine Person, an die sie anknüpfen können“

Werken auf dem Lehrplan: Schülerinnen und Schüler bauen ein „Vier gewinnt“-Spiel aus Holz. Das Thema haben sie sich selbst überlegt – so bleibt der Unterricht interessant.
Lesen, Rechnen, Schreiben und mehr: In den Klassenräumen können die Mädchen und Jungen in kleinen Gruppen konzentriert arbeiten.

Schreiben lernen in Kleinstgruppen

Eine Etage höher, im ersten Stockwerk der Villa Kunterbunt, übt an diesem Vormittag die wahrscheinlich kleinste Lerngruppe Remscheids das Schreiben. Acht Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter, aufgeteilt auf zwei Klassenräume, beugen sich unter der An­leitung je eines Sonderpädagogen konzentriert über ihre Hefte. So diszipliniert geht es in der „Integrativen Gruppe Erziehen und Lernen“ (IGEL-Gruppe) – ein Kooperationsprojekt zwischen Jugendhilfe und Heinrich-Neumann-Schule – nicht immer zu. Denn hier werden Kinder beschult, die wegen sozialer und emotionaler Probleme in keiner regulären Lern­gruppe klarkommen. Deshalb lernen die Kinder anhand geregelter Abläufe wie gemein­samen Mahlzeiten, Gesprächsrunden und der Betreuung von Tieren nicht nur die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, sondern auch die von anderen wahrzunehmen.

Und raus an die frische Luft! Bewegungspausen stehen zwischen den verschiedenen Angeboten in der Villa Kunterbunt immer auf der Tagesordnung.

Gemeinschaftswerk: Die Kinder sind stolz auf die selbst gebaute Hütte aus Paletten. Im Garten und Umfeld des Hauses bietet sich allerhand Beschäftigung an.

Heute geht es für die IGEL-Gruppe auf den Sportplatz. Hier, am Waldrand, haben sich die Kinder eine Hütte aus alten Paletten zusammengezimmert. „Fünf Arbeiter haben mitgeholfen“, erzählt die sieben­jährige Madina stolz und zeigt auf ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die gerade im Regen Verstecken spielen. Bewegung in den Pausen wird hier großgeschrieben, dann geht es zurück in den streng struk­turierten Alltag. „Unser Ziel ist es, die Kinder später in die allgemeinen Schulen zu integrieren“, erklärt Knies.

Kunterbunt ist die alte Villa schon jetzt, doch unter dem Dach sind noch Räume frei. Hier würde Knies gerne eine Intensiv­gruppe für ältere Schülerinnen und Schüler ein­richten, die durch Drohungen oder Gewalt aufgefallen sind. „Jugendlichen, die sonst ganz durchs Raster fallen, können wir bislang kein gutes Angebot machen“, sagt er. Ein bis zwei Unterrichtsstunden täglich, dann intensiv auf ein Praktikum hinarbeiten – so etwas schwebt dem Schulleiter vor. Solche Modelle finden sich in keinem Bildungsplan, man muss sie erfinden. Knies: „In der Bildung gibt es oft diese Grenzen im Kopf, das haben wir hier nicht.“

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