Schwarzes Hemd, dunkle Jeans: Daniel hat sich schick gemacht, wie es sich für ein Date gehört. Aufgeregt sei er gewesen, sagt er hinterher und lächelt erleichtert. Denn das Gespräch ist für den 16-Jährigen gut gelaufen. „Ich habe positives Feedback bekommen“, meint er. Und vielleicht hat ihn der Austausch mit einem Dortmunder Gerüstbaubetrieb einen Schritt näher an einen Ausbildungsvertrag gebracht.
In der Aula der Anne-Frank-Gesamtschule in der Dortmunder Nordstadt wird an diesem Januartag geredet statt gegessen. 15 Unternehmen haben ihre Banner aufgestellt, an langen Tischen sitzen Personalverantwortliche und begrüßen Schülerinnen und Schüler im Zehn-Minuten-Takt, am Ende des Vormittags werden es mehr als 200 Gespräche sein. „Speeddating“ nennt die Schule die Veranstaltung, bei der sich Jugendliche und Unternehmen zwanglos beschnuppern können. Stimmt die Chemie und passt der Lebenslauf, winkt vielleicht ein Praktikum oder im besten Fall ein Ausbildungsvertrag.
Souveräne Selbstdarstellung
Wenn die Abteilungsleiterin der Jahrgänge 8 bis 10, Isabelle Spieker, ihre Schülerinnen und Schüler beobachtet, verdrückt sie vor Rührung ein paar Tränen. „Hier sind einige Jungs im Raum, mit denen es im Unterricht regelmäßig Ärger gibt. Aber im Kontext der Berufsorientierung lassen sie sich beraten und motivieren – und präsentieren sich hier unglaublich souverän“, sagt sie. Darauf hat Spieker mit dem Team von der Studien- und Berufsorientierung monatelang hingearbeitet. Lebensläufe kontrolliert, Unternehmen präsentiert, Gesprächsführung geübt. Die intensive Vorbereitung zahlt sich aus. „Die Veranstaltung ist super durchorganisiert, die Jugendlichen haben ihre Lebensläufe dabei und sind über unser Unternehmen informiert“, lobt etwa die Personalleiterin von Marktkauf, Nina Bien.
Am Ende des Speeddatings setzt sich der Koordinator für berufliche Orientierung, Philip Stratmann, zu einem Unternehmensvertreter an den Tisch und fragt: „War jemand dabei, der für Sie interessant sein könnte?“ Der Personaler nickt zufrieden. „Ausbildungsplatz-Dealer“ nennen die Kolleginnen und Kollegen Stratmann scherzhaft. Er knüpft Kontakte, bringt Unternehmen und Jugendliche zusammen und vermittelt notfalls sogar dann noch, wenn es während der Ausbildung mal Stress gibt. Sein wichtigstes Ziel: Jugendliche in eine Ausbildung bringen – und sie auch dort halten.
Viele Bausteine hin zum ersten Job
Das Thema Berufsorientierung hat sich die Anne-Frank-Gesamtschule 2016 als Schwerpunkt gesetzt, das Speeddating ist nur ein Baustein von vielen. Gemeinsam mit dem Regionalen Bildungsbüro der Stadt Dortmund, Schülerinnen und Schülern, Eltern und zahlreichen Ausbildungsbetrieben hat die Schule den „Ausbildungspakt Starke Nordstadt“ geschlossen. Das Ziel: allen Schülerinnen und Schülern eine sichere Anschlussperspektive bieten. Die Unternehmen profitieren vom „direkten Draht“ und der Möglichkeit, Jugendliche in Praktika intensiv kennenzulernen, bevor sie ihnen einen Ausbildungsplatz anbieten.
In den Jahrgängen 9 und 10 ist die Berufsorientierung mit zwei bis vier Wochenstunden fest im Stundenplan verankert. Gemeinsam mit Klassenlehrerinnen und -lehrern oder spezialisierten Kurslehrkräften finden die Jugendlichen heraus, wo ihre Stärken und Schwächen liegen und welche Ausbildungsberufe zu ihnen passen könnten. Dann werden Unternehmensvertreter und Expertinnen eingeladen, Praktikumsstellen gesucht, Bewerbungen verfasst und Gespräche trainiert. Beim Besuch von Workshops und Messen lernen die Jugendlichen – wie beim Speeddating – Betriebe kennen. Auch durch eine Kooperation mit der DASA, Deutschlands größter Arbeitswelt-Ausstellung, kommen die Schülerinnen und Schüler in Jahrgang 9 mit Berufen und Unternehmen in Berührung. Ihre sozialen Kompetenzen stärken sie auf erlebnispädagogischen Teamtagen. Und immer wieder sprechen sie auch über den Umgang mit Diskriminierung, die im Berufsleben etwa Frauen mit Kopftuch droht.
Spezifische Angebote – je nach Bedarf
Ein Standardkonzept für die Berufsorientierung, das sie in jedem Jahrgang anbietet, hat die Gesamtschule indes nicht. Alle Maßnahmen sind flexibel und werden nach Bedarf angepasst. Stellt das Kollegium etwa fest, dass ein Jahrgang besonders unruhig ist und lernen muss, sich in fremden Umgebungen angemessen zu verhalten, dann geht diese Klasse einfach öfter ins Museum. In der aktuellen Jahrgangsstufe 10 zeigten besonders viele Schülerinnen und Schüler Interesse an medizinischen Berufen. Kurzerhand organisierte die Schule zusammen mit einem städtischen Seniorenheim ein Pflegepraktikum, in dem 20 Jugendliche an einem Nachmittag pro Woche in Bereiche wie Medizin, Pflege und Verwaltung hineinschnuppern können.
Und dann gibt es da noch die „Ich pack –das“-Klasse für Schülerinnen und Schüler in Jahrgang 9, deren Abschluss gefährdet ist. Hier erhalten rund 15 Jugendliche in einer kleinen Gruppe, mit abgespecktem Stundenplan und viel Unterstützung durch die Schulsozialarbeit, die Chance, schulisch doch noch die Kurve zu kriegen. Und viele packen diese Gelegenheit beim Schopf. Wie der 16-jährige Leland, der sich selbst als ehemaligen „Katastrophenschüler“ bezeichnet. Lernschwächen und eine Vorliebe für Action hinderten ihn daran, die Schule ernst zu nehmen. In der „Ich pack das“-Klasse legte er eine 180-Grad-Wendung hin, lernte und konzentrierte sich. Heute, beim Speeddating, spricht er nur aus Neugier mit zwei Unternehmen. Einen Ausbildungsvertrag in seinem Traumberuf Kfz-Mechatroniker hat er nämlich schon in der Tasche. Seinen zukünftigen Chef konnte er im Langzeitpraktikum von sich überzeugen.
Das große Engagement für den ersten Schulabschluss und die Berufsorientierung zahlt sich nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für die Schule aus. Starteten vor Festlegung dieses Schwerpunkts nur rund zehn von 100 Schulabgängerinnen und -abgängern mit einem Ausbildungsvertrag in die berufliche Zukunft, lag die Spitzenquote zuletzt bei 40 Verträgen, davon allein knapp zehn aus dem Speeddating. Gleichzeitig explodierten an der einstmals unbeliebten Anne-Frank-Gesamtschule in nur wenigen Jahren die Anmeldezahlen für die fünften Klassen auf zuletzt mehr als 200 Anmeldungen.