Seiteneinstieg

Gestern Coach, heute Lehrer

Timm Reinisch ist Seiten­einsteiger. Trotz vieler Herausforderungen findet er in seinem Lehrer­beruf an der Karlschule in Hamm die Erfüllung, die er gesucht hat.

„Das ist eine superkluge Frage, wie immer.“ „Na los, ich weiß, dass ihr das könnt!“ „Es ist so schön mit euch, alle geben sich richtig Mühe. Ein Träumchen!“ Wer Timm Reinisch im Matheunterricht mit seiner Klasse, der 5a der Karlschule in Hamm, erlebt, dem fällt seine positive Art schnell auf. Hier ein Lob, da ein ermutigendes Wort, dort ein begei­sterter Ausruf. Die Stimmung des Klassenlehrers ist herzlich, gar ausgelassen. „Ich lobe zu viel“, sagt Reinisch über sich selbst. Das stehe sogar in seiner Bewertung durch einen Fachleiter. „Lobt reichlich und im Überfluss.“ Mit dem ent­schei­denden Zusatz: „Bei dieser Schüler­gruppe aber angemessen.“ Und das gilt womöglich für viele Schülerinnen und Schüler an der Karlschule.

Sein Umfeld warnte ihn vor der Karlschule

Die Hauptschule liegt im Brenn­punkt, im Norden Hamms. Viele Schülerinnen und Schüler haben einen Migrations­hinter­grund, Lern­schwierigkeiten oder auch psychi­sche Probleme. Oft leben die Fami­lien von staatlichen Transfer­leistungen. Die Schule hat einen Sozial­index von Stufe 9 – das steht für den höchsten Unter­stützungs­bedarf. Sein Umfeld habe ihn deshalb davor gewarnt, sich hier zu bewerben, erzählt Timm Reinisch. „Die sagten: ‚Auf keinen Fall diese Schule!‘“ Es gäbe sogar Taxifahrer­innen und -fahrer, die sich wei­ger­ten, hier zu halten.

Der heute 51-Jährige entschied sich anders – und wagte dabei den Sprung ins kalte Wasser. Denn Timm Reinisch ist Seiteneinsteiger. Der studierte Chemiker, der sich schon immer für die Lehre be­gei­sterte, ging nach dem Studium in die Er­wachsenenbildung, absol­vierte ver­schiedene Fortbildungen als Coach und baute eine eigene Trainings­firma auf. 16 Jahre lang schulte er Apothekerinnen und Pharmamit­arbeitende, Bundes­wehroffiziere und andere Führungskräfte in unter­schiedlichen Themen. Bis er in dieser Tätigkeit irgend­wann keine Er­füllung mehr fand und sich entschloss, Lehrer zu werden.

Die Karlschule ist eine Hauptschule, die im Norden Hamms liegt. Andere rieten Reinisch davon ab, hier anzu­heuern. Seine Ent­scheidung hat der Lehrer nie bereut.
Timm Reinisch in seiner 5. Klasse. Im ersten gemeinsamen Schuljahr geht es ihm vor allem darum, Spaß an der Mathematik zu ver­mitteln und Selbst­vertrauen aufzubauen.

Am 1. Februar 2020 hatte Reinisch seinen ersten Arbeitstag an der Karlschule. Fünf Jahre später sagt er überzeugt: „Die Leute sollen den Mund halten, wenn sie nicht wissen, wovon sie reden. Das ist eine richtig geile Schule.“ Die Kinder seiner 5a jeden­falls sind an diesem Freitag­morgen absolute Vorzeige­schüler­innen und -schüler. Eifrig beugen sie sich in Kleingruppen über ihre Matheaufgabe und suchen gemein­sam nach möglichen Lösung­en. Keine Selbst­verständlichkeit, wie Reinisch betont. „Die Kinder haben die Grundschule mit einer Haupt­schul­empfehlung verlassen. Wenn sie zu uns kommen, sind sie davon über­zeugt, dass sie Mathe nicht können.“ Im ersten gemein­samen Schuljahr gehe es deshalb vor allem darum, Spaß an der Mathematik zu ver­mitteln und Selbstvertrauen aufzu­bauen. Als die Mädchen und Jungen mutig einzeln nach vorne treten, um der gesamten Klasse ihren Lösungs­weg zu präsentieren, spürt man, dass das ziemlich gut gelungen ist.

Als Seiteneinsteiger profitiert der studierte Chemiker von seiner Erfahrung in der Erwachsenen­bildung – und von seiner Intuition, wie motiviertes Lernen gelingen kann.

Eine Frage der Qualifikation

Die Frage, ob Seiteneinsteigende genau­so qualifiziert seien wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit kom­plettem Lehramts­studium, mag man nach dieser Unter­richts­stunde kaum stellen. Timm Rei­nisch findet sie aber legitim. Immer­hin – anders als andere Seiten­ein­steigende – habe er im Rahmen einer zweijährigen Aus­bildung das Staats­examen nachge­holt, inklusive Einführung in die Bildungs­wissenschaft und Refe­ren­dariat. Mit dem großen Unter­schied, dass er in dieser Zeit bereits fest an der Schule angestellt war und 23 Stunden pro Woche unter­richtete.

„Das war schon eine anstrengende Zeit“, blickt Reinisch zurück. Zwar erhielt er Unterstützung durch einen Aus­bildungs­lehrer aus dem Kolleg­ium, der gelegent­lich bei seinen Stunden zu­schau­te und ihm Feed­back gab. Aber manchmal saßen eben auch Ref-Ausbildende mit im Unter­richt. „Schon beim ers­ten Mal wurde ich fach­didaktisch bewertet, obwohl ich gar nichts darüber wusste.“ Wirklich gar nichts? „Nein, das hatte ich zu die­sem Zeitpunkt noch nicht gelernt. Das musste ich mir selbst aneignen“, sagt er.

Und das tat Reinisch: Auf eigene Faust habe er zum Beispiel an On­linefort­bildungen teilgenommen. Außer­dem profitiere er natürlich von seiner Er­fahrung in der Erwachs­enenbildung – und von seiner Intuition. Das Ergebnis seines unkonventionellen Werdegangs ist eine Unterrichtsplanung, die sich nicht strikt am Lehrplan orientiert, sondern individuell auf die Inter­essen und Fähigkeiten der Schüler­innen und Schüler eingeht. Sowohl die Schulleiterin als auch das Kollegium nähmen das als Berei­cherung wahr, so der Eindruck von Timm Reinisch.

„Für vieles, womit man im Lehrerberuf konfrontiert wird, ist kaum jemand von uns ausgebildet.“

Unterricht psychisch gesund gestalten

Dennoch ist die Frage der Qualifi­kation eine, die den Seiteneinsteiger umtreibt. „Für vieles, womit man im Lehrerberuf konfrontiert wird, ist kaum jemand von uns aus­gebildet.“ Etwa, wie man damit umgeht, wenn Schülerinnen und Schüler depressiv sind oder gar Suizidgedanken äußern. Was man bei selbst verletz­en­dem Verhalten macht. Oder wenn eine Schülerin oder ein Schüler im Unterricht einfach austickt.

„Wir haben hier Geflüchtete, wir haben traumatisierte Menschen. Und anders als am Gymnasium können wir nicht einfach sagen: Der oder die wäre in einer anderen Schule besser aufgehoben“, so Reinisch. Wenn es etwas gibt, dass er der Ausbil­dung – nicht nur von Seitenein­steigerinnen und Seiteneinsteigern – hinzufügen würde, dann ist es das Thema: „Wie kann man Unterricht psychisch gesund gestalten?“

Individuelle Unter­richtsgestaltung: 

Reinischs Klasse interessiert sich für Planeten. Also hat er sie in seinen Unter­richt integriert – und in den Klassenraum.

Wie lassen sich die Punkte zusammen­rechnen? In Klein­gruppen suchen die Schülerinnen und Schüler nach Lösungswegen.

Viele Anforderungen, wenig Zeit

Den Umgang mit herausfordernden Situationen muss man allerdings nicht nur lernen, man muss auch die nötige Zeit dafür haben. Dass die Lehrkräfte an Haupt­schulen ein höheres Deputat – also mehr wöch­en­tliche Pflichtstunden – haben als an manch anderen Schulen, emp­findet Timm Reinisch als „Belei­digung“. Seiner Meinung nach müsste es umgekehrt sein. Oft sei man zerrissen zwischen den ver­schiedenen Anforder­ungen des Jobs: „Wenn man sich gerade um einen psychisch auffälligen Schüler kümmert, müsste man eigentlich zur selben Zeit in einer Konferenz sitzen. Wenn man nach einem gewalt­tätigen Konflikt neun Eltern­gesprä­cheführen muss, raubt einem das viel Zeit für die Unterrichts­vorbere­itung.“

Trotz dieser Zerrissenheit bezeich­net Timm Reinisch seinen Job als erfüllend. Den Seiteneinstieg in die Schule könne er jeder und jedem nur empfehlen: „Was wir hier machen, ist so sinnvoll. Wir haben die Chance, Leben zu verändern!“ Und die Schülerinnen und Schüler danken es ihm. Erst vor Kurzem habe einer seiner Fünftklässler im Klassen­rat gesagt: „Danke, Herr Reinisch, dass wir so viel für unser späteres Leben lernen.“

„Das ist eine richtig geile Schule“, sagt Timm Reinisch überzeugt. Und weiter: „Was wir hier machen, ist so sinnvoll. Wir haben die Chance, Leben zu verändern!“

Seiteneinstieg? Same same but different!

In den Bundesländern gibt es verschiedene Wege in den Schuldienst. Diese bringen auch ein unterschiedliches Maß an Qualifizierung mit sich. Je nach Bundesland variieren auch die Bezeichnungen für Per­sonen, die an Schulen unter­richten, aber zunächst keine ausgebildeten Lehrkräfte sind (z. B. Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger oder Quer­einsteigerinnen oder Quer­einsteiger). In einem Gutachten empfiehlt die Ständige Wissen­schaftliche Kommission der Kultus­minister­konferenz, dass sich die Länder auf ein standardisiertes Programm einigen sollten.

Seit Sommer 2024 gibt es das Programm „Lehrkräfte stärken“. Es richtet sich an Lehrkräfte in der Berufseinstiegsphase, die unmittelbar nach dem Referendariat, dem berufsbegleitenden Vorbereitungsdienst oder der Pädagogischen Einführung im Lehrdienst an einer Schule in herausfordernder Lage arbeiten und sich in den ersten fünf Jahren ihres Berufs befinden. Ziel des Programms ist es, den Berufseinstieg zu stabilisieren, die Teilnehmenden bei der Bewältigung der speziellen pädagogischen und persönlichen Herausforderungen an einer Schule in herausfordernder Lage zu unterstützen und sie in ihrer professionellen Rolle zu stärken. „Lehrkräfte stärken“ ist ein Programm der Bezirksregierungen Arnsberg und Münster in Kooperation mit der Wübben Stiftung Bildung.

Tag

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


… im Postfach

Abonnieren Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit den besten Geschichten.

Das könnte Sie auch interessieren:

Bitte beachte unsere Netiquette.

Auf SchuB möchten wir den fachlichen Austausch der Schulen im Brennpunkt untereinander fördern. Daher freuen wir uns sehr über Eure Meinung zu unseren Beiträgen. Für einen respektvollen und konstruktiven Austausch bitten wir Euch folgende Regeln zu beachten:
Wir danken Euch für Eurer Verständnis und Eure Mitwirkung und wünschen Euch viel Freude beim Kommentieren.

Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?

Bitte aktiviere JavaScript in deinem Browser, um dieses Formular fertigzustellen.
Wie sind Sie auf uns Aufmerksam geworden