Berufsorientierung

Die Schule der letzten Chancen

Die Produktionsschule in Mümmelmannsberg soll Jugendliche ohne Abschluss für eine Ausbildung fit machen. Sie verzichtet dafür auf Klassen, Lehrer, Noten.

An einem Mittwochnachmittag kniet Herr Holke auf dem Schulhof und beugt sich über eine Drohne, die er zum Fliegen bringen will. Zehn Jugendliche, alle 16, 17 Jahre alt, stehen um ihn herum und warten, was passiert. Da ist zum Beispiel Nick*, dessen blondes Haar bereits schütter wird und der, wenn er lächelt, seine Zahnlücken zeigt. Silvio, dessen Traum es ist, eine Dachdeckerfirma zu leiten, und der schon heute die Autorität eines Bosses ausstrahlt, selbst in löchrigen Sweatpants. Liam, der schlank ist, fast zart, und die Hauswirtschaftsklasse besucht. Und Ella aus der Medienwerkstatt. Sie wolle beruflich gerne „Sachen designen“, sagt Ella, ihre Interessen seien „Fotografie, Filter, dies, das, Instagram, Snapchat, Pipapo, Discord auch.“ Und TikTok? „Nein, wegen Datenschutz.“

Herr Holke kalibriert die Drohne. Als die Rotoren zu surren beginnen, reicht er Nick die Fernsteuerung, die wie ein Videospiel-Controller aus­sieht. „Da ihr alle Playsi-begeistert seid, sollte das klappen“, sagt Herr Holke. Die Drohne hebt ab. Nick lässt sie in der Luft erst nach links fliegen, dann nach rechts. Die anderen Jugendlichen schweigen und schauen gebannt zu. Als Nick die Fernbedienung an Marek übergibt, geht alles ganz schnell. Die Bewegungen der Drohne werden ruckartiger, „Nein, nein!“, ruft Herr Holke, doch da stürzt die Drohne schon scheppernd zwischen die Fahrradständer. Marek verzieht das Gesicht, Ella quiekt vor Schaden­freude.

Herzlich willkommen im Produktions­schulzentrum Hamburg in Mümmel­mannsberg. Dies ist eine besondere Schule. Es gibt hier keine Klassen­zimmer. Es gibt auch kein Lehrer­zimmer. Es gibt nicht mal Lehrer, jedenfalls nicht im klass­ischen Sinne. Keiner der Erwach­senen ist verbeamtet, fast niemand hat Erziehungswissen­schaften studiert. Thore Holke zum Beispiel ist Mediengestalter und hat früher in einer Werbeagentur gearbeitet. Jetzt leitet er die Medienwerkstatt und bringt seinen Schülerinnen und Schülern die Grundzüge des Grafik­designs bei, experimentiert mit ihnen mit ChatGPT und schaut jeden Morgen mit allen die Tagesschau. „Man muss ja wissen, was in der Welt los ist“, sagt Holke.

Alle Produktionsschulen in Hamburg verfolgen einen praktischen Ansatz des Lernens. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Oliver Hardt

Vor 15 Jahren wurden die Produktionsschulen in Hamburg eingeführt, heute gibt es sieben, grob eine für jeden Bezirk. Sie nehmen Jugendliche auf, für die es in klassischen Schulen nicht so gut lief und die ohne Abschluss abzu­gehen drohen. Auf eigenen Wunsch können sie an die Produktionsschule wechseln. Immerhin 386 Jugend­liche haben diese Schulform im Oktober vergangenen Jahres besucht. Es sind Menschen, die „keine hinreich­ende Ausbildungs­reife besitzen“, wie es im Jargon der Bildungspolitik heißt, und die mit „erheblichen Vermittlungs­hemm­nissen“ auf den Arbeitsmarkt ent­lassen werden. Peter Bakker von der Produkt­ionsschule in Mümmel­mannsberg formuliert es unver­blümter: „Wenn es hier nicht klappt, heißt das: Jobcenter.“ Die Produktionsschule ist also eine Schule der letzten Chancen.

Das Angebot unterscheidet sich je nach Standort: In Eimsbüttel gibt es zum Beispiel eine Schneiderei, in Steilshoop eine Bäckerei und einen Friseursalon. Gemein ist allen Pro­duktionsschulen, dass sie einen praktischen Ansatz des Lernens verfolgen. Es geht hier nicht zuerst um Bücher und Fakten, sondern um Handwerk und Betriebsabläufe. „Der Wunsch nach Theorie entsteht in der Produktion“, lautet einer der Grundsätze. Und noch etwas ist an diesen Schulen besonders: Statt vom Staat werden sie von Stift­ungen oder Sozialunternehmen betrieben, die oft auch Projekte für Langzeitarbeitslose anbieten. Hinter der Produktionsschule in Mümmel­mannsberg steht die Sprungbrett Dienstleistungen gGmbH, deren Geschäftsführer Peter Bakker ist und zu der auch eine Kleiderkammer und ein Sozialkaufhaus gehören.

Um die Bedeutung der Produktions­schulen zu verstehen, muss man eine gute und eine schlechte Nachricht über das Hamburger Bildungssystem kennen. Zuerst die gute: Überdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler schaffen das Abitur, in diesem Jahr waren es 9.216. Die neuesten Vergleichs­zahlen beziffern den Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten pro Jahrgang mit 54 Prozent, bundes­weit liegt dieser Wert bei 39 Prozent. Das ist ein Erfolg des zweigliedrigen Schulsystems, denn die Bedeutung der Hochschulreife steigt. Ein Studium ist heute nicht mehr nur was für Ärztinnen, Anwälte und Ingenieure, sondern auch für Hebammen und andere Berufs­gruppen. Der hohe Anteil der Abi­turienten kommt also dem Arbeits­markt zugute und damit der ganzen Gesellschaft.

Jetzt die schlechte Nachricht: Jedes Jahr verlassen rund tausend Jugend­liche in Hamburg die Schule ohne jeden Abschluss, übrigens deutlich mehr Jungen als Mädchen. Die Hanse­stadt, die für ihre Bildungspolitik einiges Ansehen genießt, liegt hier im Bundes­vergleich im Mittelfeld, gleichauf mit Berlin.

„Hier ist man wie ein normaler Mitarbeiter. Man kann Tische machen, Stühle machen, alles selber herstellen.“

Der Schulabschluss hat weiterhin eine Indikatorfunktion

„Viele Leute fragen: Wo ist das Problem? Es suchen doch viele Betriebe nach Auszubildenden!“, sagt Peter Bakker. „Das stimmt zwar, aber davon profitiert unsere Klientel nicht unbedingt.“ Bakker erläutert: Jede Berufsausbildung besteht aus einem betrieblichen und einem schulischen Teil. Der betriebliche Teil erfordert von Jugend­lichen unter anderem Zuverlässigkeit, Durch­haltevermögen und passable Umgangs­formen. Der schulische Teil ist, na ja, schulisch. Betriebe, die einen neuen Azubi suchen, stellten sich deshalb zwei Fragen, sagt Bakker. „Erstens: Hält der den beruflichen Alltag durch? Und zweitens: Schafft der die Berufs­schule?“ Ein Azubi kann praktisch noch so begabt sein – wenn er in der Berufsschule durchfällt, wird er kein Facharbeiter. Deshalb legten viele Betriebe Wert darauf, dass neue Azubis zumindest den ESA haben, sagt Bakker, also den Ersten Allgemeinbildenden Schulabschluss (früher: Hauptschul­abschluss). „Der ESA zeigt: Da kann sich einer hinsetzen, lernen und Prüfungen bestehen.“

Handwerkskammer und Handels­kammer bestätigen das. Zwar gebe es Branchen und Gewerke, in denen ein Abschluss keine Voraussetzung für eine Ausbildung sei – etwa die Lager­logistik, Bäckereien oder Sicher­heitsdienste. Erste Unter­nehmen schauten zudem nicht mehr auf schulische Leistungs­nachweise, sondern verließen sich allein auf von ihnen entwickelte Eignungstests und Bewerbungsgespräche. Doch in der Breite gelte ein Schulabschluss als „relevanter Indikator“ für not­wendiges Vorwissen, sagt Stephanie Anders von der Handwerkskammer. Auch Fin Mohaupt von der Handels­kammer spricht von einer Indikator­funktion des ESA: „Wenn ein Schul­abschluss fehlt, ist das meist ein Hinweis, dass es auch an Kom­petenzen mangelt.“

An diesen Kompetenzen setzen die Produktionsschulen an. Statt um Abschlüsse geht es um Anschlüsse: darum, Jugendliche so auf den betrieblichen Alltag vorzubereiten, dass sie auch ohne Zeugnis eine Arbeit finden können. Und sie so gut ans Lernen zu gewöhnen, dass man sie als Meister ohne mulmiges Gefühl in die Berufsschulen schicken kann.

„Morgens aufstehen, den Tag über durchhalten, die Regeln beachten, das üben wir, denn das fällt vielen noch schwer“, sagt Cornelia Sillah. „Oder, Sinan?“ Sinan schaut von der Werkbank auf und bestätigt: „Japp.“ Sillah ist Werkstattpädagogin für Raumaus­stattung, Sinan einer ihrer Schüler. Der Unterrichtsraum in der Produktionsschule in Mümmel­mannsberg sieht aus wie eine kleine Tischlerei, an den Wänden hängen Werkzeuge, auf der Werkbank liegt ein alter Beistellschrank. „Wir schleifen den ab und streichen ihn neu“, erklärt Sillah: „Mit einer Kreidefarbe, das wirkt vintagemäßig, ganz schick.“

Er sei an der „normalen Schule“ nicht klargekommen, erzählt Sinan in einer Pause: „Meine Klasse war chaotisch. Ich habe viel gefehlt. Es ist ja auch so, je höher die Klasse, je schwerer wird es.“ Seinen Wechsel von der Stadtteil- an die Produktionsschule beschreibt er als eine Befreiung: „Hier ist man wie ein normaler Mitarbeiter. Man kann Tische machen, Stühle machen, alles selber herstellen.“

Wer bisher im Unterricht zweifelte, wofür all das Lernen einmal gut sein könnte, bekommt an der Produkt­ionsschule ein ganz unmittelbares Feedback. Die alten Möbel suchen die jugendlichen Raumausstatter gemeinsam mit Cornelia Sillah im Sozial­kaufhaus in Bergedorf aus, restaurieren sie und bringen sie dann wieder zurück ins Kaufhaus. „Vor zwei Wochen haben wir einen Kinderzimmerschrank schick gemacht, der war nach einem Tag verkauft“, sagt Cornelia Sillah: „Das ist doch ein toller Erfolg!“

Es geht hier nicht zuerst um Bücher und Fakten, sondern um Handwerk und Betriebsabläufe. „Der Wunsch nach Theorie entsteht in der Produktion", lautet einer der Grundsätze. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Vera Loitzsch

Bei guter Mitarbeit gibt es ein kleines Taschengeld

Die Fahrradwerkstatt ein Stockwerk tiefer kümmert sich um platte Reifen und Schrotträder. Die Haus­wirtschaftsklasse kocht jeden Tag das Mittagessen für die ganze Schule. Und in der Medienwerk­statt von Thore Holke wird gerade an einem Videoclip gearbeitet, der die Produktionsschule in den sozialen Medien bekannter machen soll. Deshalb die Idee mit der Drohne, die das Gelände aus der Luft filmen soll, wie in einem professionellen Imagefilm.

Dass die Lerngruppen in den Produktions­schulen kleiner sind als in Stadtteilschulen, hilft den Jugendlichen. Dass sie regelmäßig ein kleines Taschen­geld bekommen, wenn sie sich an die Regeln halten und gut mitarbeiten, ist ein zusätz­licher Anreiz. Und nicht zu unter­schätzen ist auch, dass die Erwach­senen den richtigen Ton treffen. Einige von ihnen kennen die Probleme, die ihre Schülerinnen und Schüler von zu Hause mitbringen. „Der Hintergrund der Jungs ist auch mein Hintergrund“, sagt Stefan Meining, der Leiter der Fahrrad­werkstatt: „Ich bin mit einem alkohol­abhängigen Elternteil aufgewachsen und mit ständigem Umziehen, immer dann, wenn die Mietrückstände fällig wurden.“ Sein Schüler Marco, der gerade an einem Rennrad die Speichen richtet, sagt: „Man kann sich hier mit den Lehrern richtig unterhalten, auch über Probleme reden. Alle sind respekt­voll.“ Rückfrage: War das mit dem Respekt an der Schule vorher anders? „Ja“, sagt Marco und dreht sich weg, zu seinen Speichen.

Eine Schule der letzten Chancen ist die Produktionsschule auch in einem zweiten Sinne: Es sind nicht nur die Jugendlichen, die hier landen, am staatlichen Schulsystem gescheit­ert, sondern auch das staatliche Schulsystem an ihnen. Noch vor zehn, zwanzig Jahren galten Hunderte junge Menschen in Hamburg als „verschollen“. So formuliert es das Hamburger Institut für Berufliche Bildung (HIBB), das der Schulbehörde untersteht. Sie gingen ohne Abschluss von der Schule ab, meldeten sich nie beim Sozialamt und verschwanden damit aus der Wahr­nehmung aller staatlichen Stellen. Diese Jugendlichen „tauchten oft Jahre später, nach einer zum Teil schwierigen Lebens­phase, als Personen ohne Berufs­ausbildung in den Statistiken wieder auf“, schreibt das HIBB. Dann aber war es oft schwierig, sie noch in den Arbeits­markt zu integrieren.

Inzwischen gibt es viele Maß­nahmen, die dafür sorgen sollen, dass in Hamburg niemand mehr verloren geht. Etwa die Jugend­berufsagentur, die staatliche Hilfs- und Beratungsleistungen bündelt. Oder das Programm AvDual, das sich um die Ausbildungsvorbereitung kümmert. Und natürlich die Produktionsschulen. Rund 81 Prozent der Jugendlichen, die hier anfangen, sind ohne Schul­abschluss. Aber rund 46 Prozent derer, die nach ein oder zwei Jahren wieder abgehen, starten eine Ausbildung oder sozial­versich­erungs­pflichtige Beschäftigung.

Dass eine Stadt tausend Jugend­liche pro Jahr im Grunde aufgibt, Hunderte gar ganz aus den Augen verliert, das war wohl schon immer fragwürdig. In Zeiten der alternden Gesellschaft und des Fachkräfte­mangels ist es auch wirtschaftlich nicht mehr tragbar.

Wie ging es eigentlich mit der Drohne weiter? Thore Holke hat sie zwischen den Fahrradständern geborgen, doch sie springt nicht mehr an. Gleich wird er im Schulgebäude verschwinden, um Ersatzteile zu holen, und die Drohne bald danach repariert haben. Doch vorher zeigt er allen Jugendlichen das durch den Absturz beschädigte Rotorblatt. „Guckt mal“, sagt Holke, „diese kleine Delle bringt die ganze Aerodynamik durcheinander.“

Jeder Crash kann eine Lernerfahrung sein.

*Die Namen aller Minderjährigen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

Dieser Beitrag wurde zuerst in der ZEIT (Nr. 46/2024) am 13. November 2024 veröffentlicht.

Produktionsschule in Hamburg-Mümmelmannsberg. Dies ist eine besondere Schule. Es gibt hier keine Klassenzimmer. Es gibt auch kein Lehrerzimmer. Es gibt nicht mal Lehrer, jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Foto: © Wübben Stiftung Bildung/Peter Gwiazda
Foto: © Florian Thoss für DIE ZEIT

Oskar Piegsa ist Redakteur im Hamburg-Ressort der ZEIT. Er war 2023 Fellow des Nina Grunenberg Fellowship, einem Weiterbildungsstipendium für Bildungsjournalistinnen und -journalisten, das von Publix vergeben und von drei Stiftungen gefördert wird: der Schöpflin Stiftung, der Wübben Stiftung Bildung und der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS.

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