Gleichberechtigung

Botschafter für Toleranz und Gleichberechtigung

Was ist typisch Mann? Welche Rechte haben Frauen? Ein Schulprojekt regt Jungen mit Migrationshintergrund zum Reflektieren der eigenen Rollenbilder an.

Als Antimo den Raum betritt, schlägt dem 15-Jährigen der Geruch von gebratenem Rindfleisch entgegen. „Bruder, du musst die Patties wenden!“, ruft ein Junge aus der Küche. Dreizehn Jungen stehen in der Cafeteria einer Gesamtschule in Hannover und hantieren mit Küchen­geräten, der Arbeitsauftrag lautet: Burger machen im Kollektiv. Die Jungen-Gruppe FreeCan („Freies Leben“) trifft sich seit Beginn des Schuljahres einmal pro Woche, selbst gekochtes Abendessen inklusive.

FreeCan ist ein gemeinsames Projekt der Integrierten Gesamtschule Hannover-Linden und der Leonore-Goldschmidt-Schule. Jedes Jahr sprechen die Sozialarbeiter beider Schulen gezielt Achtklässler mit Einwanderungsgeschichte an, um sie in der neunten Klasse zu Botschaftern für „Toleranz und Gleichberechtigung“ auszubilden. Das Ziel des Projekts: Die Jungen sollen sich ein Jahr lang unter Anleitung von Teamern, die selbst FreeCan durchlaufen haben, gemeinsam mit Themen wie Ehre, Gleich­berechtigung und mit ihrem Frauenbild auseinandersetzen. Alles auf freiwilliger Basis. Und im besten Fall haben sie Lust, danach selbst als „Botschafter für Gleich­berechtigung“ Workshops in Klassen über genau diese Themen zu geben.

Antimo, zurückgegeltes Haar und auffällige Silberkette um den Hals, setzt sich breitbeinig an den langen Tisch zu seinem Kumpel. Sie klatschten sich ab, machen Witze und lachen laut durch den Raum. Am Anfang des Tisches platziert sich Soncan Somji. Der Sozialarbeiter leitet mit einem Kollegen zusammen das Projekt bereits seit vier Jahren. „Ich bin selbst in zwei Welten groß geworden“, sagt er, der inzwischen Vater vierer Töchter ist. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, was viele Jungen erleben.“ Somji war derjenige, der Antimo am Ende des vergangenen Schuljahres gefragt hatte, ob er bei FreeCan mitmachen wolle. Der 49-Jährige kennt seine Situation: Eine Großfamilie mit vielen Kindern und wenig Möglichkeiten, sich für die Bildung der Kinder zu engagieren. „Ich weiß, dass ihm das guttun wird“, sagt Somji.

Jungen mit Einwanderungsgeschichte gelten als Bildungsverlierer

Was früher das katholische Mädchen vom Land war, sind heute Jungen wie Antimo. Sie gelten im deutschen Schulsystem als sogenannte Bildungs­verlierer. Das zeigen zahlreiche Studien. Sie machen seltener eine Ausbildung und gehen seltener studieren als andere Gleichaltrige, erreichen, wenn es schlecht läuft, nicht einmal einen Schulabschluss. In Deutschland entscheiden noch immer zu oft Einkommen und Bildungsgrad der Eltern über Erfolg und Aufstiegs­chancen von Kindern, wie auch der jüngste Nationale Bildungsbericht sowie eine aktuelle Studie der OECD zur Chancen­gleichheit erneut offenbarten. Hinzu kommt: Kinder aus Familien mit Einwanderungsgeschichte übernehmen oft die traditionellen Werte des Elternhauses, sagt Somji. Das zeige sich etwa bei dem doch oft sehr traditionellen Verständnis von Männer- und Frauenrollen oder wenn es um Gleichberechtigung gehe.

Der Ansatz von FreeCan ist: „Wir wollen die Jungen hier nicht belehren, sondern ihnen Denkanstöße geben“, sagt Somji. Heute machen die Jungs eine sogenannte Positionierungsübung. Einer der drei Teamer liest eine Aussage zweimal laut vor, danach müssen sich die Jungen dazu positionieren. Das sind die Regeln: Wer sich neben die Tischkicker und den Flipchart stellt, stimmt der Aussage zu. Wer sich auf die andere Seite vor die Theke der Küche stellt, ist anderer Meinung. Ein anderer Teamer moderiert die anschließende Diskussion.

„Ein Mann darf keine Gefühle zeigen“, liest der Teamer laut vor. Es wird getuschelt, ein paar Sekunden vergehen, bis sich die Jugendlichen positionieren. Der Großteil der Jungen stimmt der Aussage nicht zu, Antimo und ein anderer Junge teilen die Meinung. „Warum hast du dich dahingestellt?“ Antimo lacht, dann wird er ernst. „Du darfst keine Schwäche zeigen“, erklärt er. Damit sei er groß geworden. „So habe ich es gelernt. Sonst wirst du nicht ernst genommen.“ Ein Junge auf der Gegenseite kontert: „Gefühle zeigen fängt mit Mimik und Gestik an. Das machen wir alle. Deswegen müssen alle auf dieser Seite stehen.“ Der Junge, der neben Antimo gestanden ist, geht rüber zu den anderen. „Du hast mich überzeugt“, sagt er. Antimo jedoch bleibt stehen.

Etwas dazwischen gibt es nicht. Die Jungs müssen sich entscheiden, ob sie einer Aussage zustimmen oder nicht. Foto: © Wübben Stiftung BIldung/Reinaldo Coddou

„Wir können nicht deren Eltern erziehen. Das ist die Schwierigkeit."

Der Teamer liest die nächste Aussage vor: „Ein Mann darf nachts raus, eine Frau aber nicht.“ Die Gruppe ist unentschieden, einige Jungen stellen sich in die Mitte zwischen den Polen. „Es gibt kein Dazwischen“, sagt der Teamer. Am Ende stimmen drei Jugend­liche, darunter erneut Antimo, der Aussage zu. Die anderen sind anderer Meinung.

„Wenn du eine Freundin hättest: Würdest du ihr verbieten, abends allein rauszugehen?“, fragt der Teamer. „Ich würde ihr sagen, dass sie mich immer anrufen kann“, sagt ein Junge. Antimo nickt zu­stimmend.  „Aber was machen Frauen, wenn sie mal Spätschicht haben?“, entgegnet ein anderer. „Es gibt auch Männer, die stärker sind als andere Männer. Sollen die dann auch nicht rausgehen?“, fragt ein weiterer. „Außerdem habe ich mal in die Taschen von ein paar Freundinnen geschaut, als wir unterwegs waren. Die haben Pfefferspray dabei, die sind besser bewaffnet als wir.“ Gelächter.

„Die dritte Aussage ist komplizierter“, kündigt der Teamer an. „Findest du es in Ordnung, wenn Männer mehr Freiheiten haben als Frauen, weil sie besser Ent­scheidungen treffen können?“ Diesmal sind sich alle im Raum einig: Das ist nicht in Ordnung. „Männer und Frauen können gleichermaßen Entscheidungen treffen“, sagt einer. Ein anderer findet sogar, dass Mädchen hier im Vorteil sind: „Mädchen denken eher darüber nach, bevor sie handeln. Ich finde das gut und das mache ich nun auch so.“ Ein Dritter: „Denkt an eure Mütter, sie haben auch schlaue Entscheidungen getroffen.“ Wieder Gelächter.

Bei FreeCan bekommen die Jungen Raum, den sie in ihrem Alltag nicht haben. Foto: © Wübben Stiftung BIldung/Lukas Schulze

„Es ist hier ganz anders, als ich es gewohnt bin"

Am Ende des Nachmittags setzen sich die Jungen in einen Stuhlkreis zu­sammen und tauschen sich aus über ihre Erkenntnisse. Viele von ihnen schätzen den Aus­tausch, finden es gut, dass es einen Raum gibt, über Themen wie Ge­schlechter­­rollen zu reden. Das hat in ihrem Alltag sonst wenig Platz. Als Somji ein Plädoyer über Empathie und Gleich­berechtigung zwischen Frau und Mann hält, hören die Jungen denn auch aufmerksam zu – obwohl der eine oder andere ein Gähnen nicht unterdrücken kann.

Wie erfolgreich und nachhaltig ist das Projekt FreeCan? „Man müsste es evaluieren“, sagt Somji. „Aber das kostet Geld, das wir nicht haben.“ In all den Jahren habe es nur zwei Fälle gegeben, erzählt er, die eine FreeCan-Gruppe vorzeitig verlassen haben. Und das Projekt habe auch Grenzen. „Wenn die Jungen hier raus sind, gehen sie nach Hause, also zurück in Strukturen, gegen die wir arbeiten“, sagt Somji. „Wir können nicht deren Eltern erziehen. Das ist die Schwierigkeit.“

Draußen dämmert es bereits. Die Jungen räumen auf und machen die Küche sauber. „Es ist hier ganz anders, als ich es gewohnt bin“, sagt Antimo. Er mache viel mit sich selbst aus. Erst vor Kurzem war Antimo der Meinung, dass es einzig der Mann sei, der „das Brot nach Hause bringt“. Das, sagt er, habe sich durch FreeCan verändert.

Dieser Artikel wurde zuerst auf ZEIT ONLINE am 2. November 2024 veröffentlicht. 

Foto: © Helena Lea Manhartsberger

Eser Aktay ist Redakteur im Familienressort von ZEIT ONLINE. Er war 2024 Fellow des Nina Grunenberg Fellowship, einem Weiterbildungs­stipendium für Bildungsjournalistinnen und
-journalisten, das von Publix vergeben und von drei Stiftungen gefördert wird: der Schöpflin Stiftung, der Wübben Stiftung Bildung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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